Ich schlage das Märchenbuch auf und puste etwas Staub heraus. Das Lama beobachtet mich neugierig.
"Ich weiß, es kann nur eines geben", versuche ich alle Diskussion gleich im Keim zu ersticken, "aber hör es Dir erst mal an:
Es war einmal eine Lamazauberin, die hatte drei Lamasöhne, die sich brüderlich liebten; aber die Alte traute ihnen nicht und dachte, sie wollten ihr ihre Macht rauben.
Da verwandelte sie das älteste Lama in einen Adler, der musste auf einem Felsengebirge hausen, und man sah ihn manchmal am Himmel in großen Kreisen auf und nieder schweben. Das zweite verwandelte sie in einen Walfisch, der lebte im tiefen Meer, und man sah nur, wie er zuweilen einen mächtigen Wasserstrahl in die Höhe warf. Beide hatten nur zwei Stunden jeden Tag ihre lamaartige Gestalt.
Das dritte Lama, da es fürchtete, sie möchte es auch in ein reißendes Tier verwandeln, in einen Bären oder einen Wolf, so ging es heimlich fort.
Es hatte aber gehört, dass auf dem Schloss der goldenen Sonne eine von einem Zauberer verwünschte Königslamatochter säße, die auf Erlösung harrte; es müsste aber jeder sein Leben daran wagen, schon dreiundzwanzig Lamas wären eines jämmerlichen Todes gestorben und nur eines noch übrig, dann dürfte keines mehr kommen. Und da sein Herz ohne Furcht war, so fasste es den Entschluss, das Schloss von der goldenen Sonne aufzusuchen.
Es war schon lange Zeit herumgezogen und hatte es nicht finden können; da geriet es in einen großen Wald und wusste nicht, wo der Ausgang war.
Auf einmal erblickte es in der Ferne zwei Riesen, die winkten ihm mit der Hand, und als es zu ihnen kam, sprachen sie:
'Wir streiten um einen Hut, wem er zugehören soll, und da wir beide gleich stark sind, so kann keiner den anderen überwältigen. Die kleinen Lamas sind klüger als wir, daher wollen wir Dir die Entscheidung überlassen.'
'Wie könnt ihr euch um einen alten Hut streiten?' sagte das Lama.
'Du weißt nicht, was er für Eigenschaften hat! Es ist ein Wunschhut, wer ihn aufsetzt, der kann sich hinwünschen, wohin er will, und im Augenblick ist er dort.'
'Gebt mir den Hut', sagte das Lama, 'ich will ein Stück Weges gehen, und wenn ich euch dann rufe, so lauft um die Wette, und wer am ersten bei mir ist, dem soll er gehören.'
Es setzte den Hut auf und ging fort, dachte aber an die Königslamatochter, vergaß die Riesen und ging immer weiter.
Einmal seufzte es aus Herzensgrund und rief: 'Ach, wäre ich doch auf dem Schloss der goldenen Sonne!' Und kaum waren die Worte über seine Lippen, so stand es auf einem hohen Berg vor dem Tor des Schlosses."
"Ui! Ui! Ui!" sagt das Lama. "Das ist ja mal spannend! Werden die Riesen das Lama verfolgen und den Hut zurückhaben wollen? Bekommt es ordentlich auf die Fresse? Und was ist mit der Königslamatochter?"
Es wippt aufgeregt auf dem Sofa vor und zurück.
"Hast Du schon mal gehört", frage ich, "dass man aufhören soll, wenn es am schönsten ist? Oder am spannendsten?"
"Das ist jetzt nicht Dein Ernst, Alter!"
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