Zweiter Stock rechts
Die Wohnung des Latino-Pärchens nebenan ist heute verdächtig ruhig, aber darüber geht mein heutiger Gastgeber schweigend hinweg, ebenso wie über die Tatsache, dass wir gestern beide bemerkt haben, dass mit Izabella und Enrico und den schwarzen Männern irgendetwas nicht stimmte. Was, wenn diese Spanier, Südamerikaner oder was auch immer, sich gegenseitig etwas angetan haben?
Das dampfende Getränk, das mir der Bewohner von Apartment 4 in die Hand drückt, lenkt mich von meinen Gedanken um seine Nachbarn ab. "Der Saft der Maniok-Wurzel", verkündet er stolz. "Hat mich schon manchen Survival-Trip in den Dschungel überstehen lassen. Aber da konnte ich ihn natürlich meistens nicht heiß aufbrühen!"
Er lacht ein eigentümliches Lachen, das Falten um die Augen in seinem runden Gesicht wirft. Dabei nickt er mir aufmunternd zu, als müsste ich diesen seinen Scherz verstehen und seine Erheiterung auf jeden Fall teilen. Während ich versuche, an dem dampfenden und irgendwie mehligen Gesöff wenigstens zu nippen, hängt er sein Jagdmesser, mit dem er die Maniok-Knolle aufgeschnitten hat, zurück in eine gläserne Vitrine.
Es gibt viele Waffen dieser Art in seiner Wohnung. Messer, Dolche und Macheten in allen Formen und auch Farben. Einige hängen direkt an der Wand, andere sind in gläsernen Schränken oder offenen Kisten ausgestellt. Aber es gibt auch mehrere Sätze Pfeil und Bogen und auch etwa ein halbes Dutzend Angelruten. Alles wirkt irgendwie folkloristisch, aber nicht wie Touristensouvenirs sondern wie persönlich von ureingeborenen Naturvölkern auf der ganzen Welt in mühevoller Handarbeit herstellt. Sie wirken wie Geschenke, die mein Gastgeber hegt und pflegt, aber auch in Gebrauch hat. Und ich kann keine Schusswaffen entdecken.
Er ist ein großer, kräftiger Mann. Muskulös, aber nicht wie von Fitnessmaschinen in einem Sportstudio, sondern eher wie von körperlichem Einsatz geformt. Ich schätze ihn auf Mitte bis Ende Vierzig. Ob er seine Glatze trägt, weil er sich die Haare abrasiert oder weil sie ihm ausgegangen sind, vermag ich nicht zu erkennen. Über seine rechte Gesichtshälfte verläuft eine Narbe wie von einem tiefen Schnitt.
Verschiedene gerahmte Fotografien an den Wänden zeigen ihn in allen möglichen Teilen der Welt, manchmal mit anderen Menschen, öfter aber mit den unterschiedlichsten Jagdtrophäen. Auf einem Bild, das offenbar in Afrika aufgenommen wurde, stellt er einen Fuß in einem Stiefel mit dicker Sohle auf ein am Boden liegendes Nashorn. Umringt wird er dabei von lächelnden, dunkelhäutigen Buschmännern, die den gefesselten Dickhäuter mit dicken Seilen am Boden halten.
Und dann ist da, alles überragend und gleichsam im Mittelpunkt der gesamten Wohnung, der ausgestopfte Kopf eines Wildschweins, das einen aus gläsernen Augen zu beobachten scheint, egal, was man macht. Aber lauert da im Schatten des Durchgangs zur Küche nicht noch etwas größeres, ein noch gewaltigeres Raubtier? Schimmert da vielleicht das Fell eines präparierten Eisbären, mit gefletschten Zähnen und hoch erhobenen Pranken?
Er hockt sich auf einen hölzernen Schemel mir gegenüber und nimmt einen tiefen Schluck von seinem Maniok-Gesöff. Seufzend erzählt er mir von einem Walkabout, den er gerade in der Wildnis Australiens hinter sich gebracht hat. Seine grauen Augen blitzen lebhaft, während er in Erinnerungen versinkt. Aber er spricht auch von seinem Gefühl, nach seiner Rückkehr nicht mehr Teil dieser Welt zu sein. Er habe manchmal den Eindruck, seine eigenen Beine würden ihn nicht tragen in dieser westlichen Zivilisation und auf dem harten Asphalt. Er fühle sich manchmal verloren, sagt er, geradezu LOST, als hätte er verpasst, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Ort zu sein, der noch nicht mit ihm fertig ist.
"Helen", sagt er, "hätte mich einen besessenen Narren genannt." Und dann bleibt er mir schmunzelnd die Erklärung schuldig, wer diese Helen ist oder war. Stattdessen säubert er sich mit einem Schweizer-Messer, das er aus einer der vielen Taschen seiner Allzweckweste gezogen hat, die Fingernägel.
"Darf ich Dich zu einem Wildschweinbraten einladen?" fragt er plötzlich unvermittelt und springt auf die Beine. "Schmeckt aus einem Backofen natürlich nur halb so gut wie über einem offenen Feuer gebraten, ist aber immer wieder ein Festmahl!" Doch ich lehne dankend ab und verabschiede mich.
Ach ja, der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt: Der Name des Bewohners von Apartment 4, zweiter Stock rechts, ist Locke, Johnathan, genannt "John", Locke.
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