Wednesday, December 22, 2010

Apartment 22

Dreizehnter Stock rechts

"Ach, Bromford, es ist so schön, endlich wieder einmal die Sprache meiner Mutter hören und sprechen zu können. Ich glaube, das habe ich schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr getan."
Aber welche Sprache sprechen wir? Welche Sprache vermisst sie seit fünfundsechzig Jahren? Dies hier ist die Ferne. Dies hier ist die Fremde. Ein Land, in dem für gewöhnlich nicht unsere gemeinsame Muttersprache gesprochen wird, nicht unser Vaterland. Hatten wir die Diskussion über Vaterland und Muttersprache schon einmal? Ist das in der Sprache, die wir sprechen müssen, wenn man uns in Bromford verstehen will, auch so? Wieder einmal weiß ich es nicht.

Ich kenne die Bewohnerin von Apartment 22 aus dem dreizehnten Stock. Und damit ist auch bewiesen, dass es in diesem Haus einen dreizehnten Stock gibt, keinen künstlichen Stock vierzehn nach dem zwölften und auch keinen Stock zwölf a) aus unnötigem Aberglauben. Die alte Dame sagt, es macht ihr nichts aus. Sie sei nie abergläubisch, aber auch nie besonders gläubig gewesen. Ich kenne sie, auch wenn sie nicht zu den "Buggles" gehört und ich nie in ihrem Übungskeller war. Und sie heißt nicht Roswitha Mauer, wie ich anfangs irrtümlich dachte.

Ihr Name ist Rachel Goldzweig. Sie ist zweiundachtzig Jahre alt und kam 1945 gleich nach der Bombardierung ihrer Heimatstadt Dresden durch britische und amerikanische Kampfflugzeuge in dieses Land. "Es ist nicht schön, alt zu sein und immer älter zu werden, Bromford", seufzt sie und reibt sich die schmerzenden Gelenke. "An manchen Tagen kann ich mich nicht erinnern, was ich zum Frühstück hatte, aber dafür stürzen die Erinnerungen als längst vergangenen Zeiten über mir zusammen, als hätte ich die Dinge erst gestern erlebt.

Es war im Februar 1945 als die Flugzeuge kamen und alles in Schutt und Asche gelegt haben. Ich war gerade 17 Jahre alt geworden. Und das sollten doch unsere Befreier sein, aber sie überzogen alles mit Feuer und Tod. Wir waren da schon seit vier Jahren in unserem Versteck im Hinterhaus. Meine Eltern hatten sie schon in der Nacht vom 09. auf den 10. November 1938 verhaftet. 'Reichskristallnacht' haben sie es genannt wegen dem Glitzern der Scherben der Scheiben der jüdischen Geschäfte und Häuser und Synagogen. Ich war gerade bei Bekannten zu Besuch und habe Mama und Papa nie wieder gesehen. Aber ich habe auch nie weiter nachgeforscht, was aus ihnen geworden ist.

Salomo Goldzweig – ich nannte ihn immer Shlomo – mein späterer Mann und seine Familie nahmen mich bei sich auf, bevor wir dann alle zusammen ins Versteck gingen. So ist es uns wenigstens erspart geblieben, Judensterne auf der Kleidung tragen oder unsere Vornamen in "Sarah" oder "Israel" ändern zu müssen. Und natürlich sind uns auch die Lager und die Duschen erspart geblieben. Die Schraders haben uns über vier Jahre versteckt und mit Lebensmitteln versorgt. Es war nicht leicht, das kannst Du mir glauben."

Sie seufzt und zittert, als ein Atemzug rasselnd ihre Lungen füllt. "Und dann kamen die Nächte vom 13. bis 15. Februar 1945 und ein Bombenteppich nach dem anderen. Das Wohnhaus wurde getroffen. Die Schraders verschüttet. Fast hätten uns die Befreier für immer eingeschlossen in unserem Versteck im Hinterhaus. Shlomos Vater hatte schon in der ersten Nacht einen Herzanfall und ist gestorben. Aber wir, Shlomo, seine Mutter Judith und ich haben überlebt. Und wir sind geflohen. Frag' mich nicht wie, aber irgendwie ist es uns gelungen, Deutschland zu verlassen und über Frankreich zu flüchten.

Konnten wir ahnen, dass kein Vierteljahr später dieser schreckliche Krieg und diese Terrorherrschaft vorbei sein würden? Ich weiß es nicht. Wären wir nach dem Mai 1945 in dem Land unserer Geburt geblieben? Ich denke nicht.

Shlomos Familie hatte etwas Geld auf ausländischen Konten und davon haben wir uns noch im Winter '45 diese Wohnung hier gekauft. Wusstest Du, dass dieses Haus mal das höchste der ganzen Stadt war? Und schon im Februar '46 waren Shlomo und ich verheiratet. Ich war und bin seitdem Rachel Goldzweig. Seine Mutter verließ uns keine drei Jahre später für immer. Wir hatten nie Kinder. Ich weiß nicht warum. Es hat einfach nie geklappt. Und vor zehn Jahren hat mich dann auch mein Shlomo verlassen. Er hat das neue Jahrtausend nicht mehr erleben dürfen."

Ihre Stimme schwankt und zittert. "Und seitdem habe ich nur sehr wenig Deutsch gesprochen. Das Land habe ich seit fünfundsechzig Jahren nicht mehr betreten. Keinen Kontakt mehr. Und manchmal frage ich mich, ob ich wirklich jemals dort war. Oder ob all diese Erinnerungen nut böse Streiche sind, die mir mein verwirrter Geist spielt. Man sagt, man ist in einem neuen Land angekommen, hat es als neue Heimat angenommen, wenn man beginnt, in der Sprache dieses Landes zu träumen. Ich kann mich nicht an meine Träume erinnern, Bromford. Ich weiß nicht, welche Sprache ich in ihnen spreche. Ist das schlimm?"

Eine Träne läuft quälend langsam über ihre faltigen Wangen. Jetzt zittern ihre zusammengepressten Lippen. Ich halte ihre Hände, und wir sitzen lange in der aufsteigenden Dunkelheit und schauen in das leichte Flackern eines siebenarmigen Kerzenleuchters.

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