Zehnter Stock rechts
Die Vorweihnachtszeit hat nun auch das Haus in der Whitaker Lane 666 fest im Griff. Jemand – Muss ich mich fragen wer? – hat eine Girlande aus künstlichen, dunkelgrünen Stechpalmen und roten Beeren in den Fahrstuhl gehängt. Sie rahmt ein großes Schild an einer Wand des Fahrstuhls ein und läuft dann einmal ringsum die Kabine. "Merry X-Mas And A Happy New Year" steht auf dem Schild.
Als ich an der Tür von Apartment 16 klingele, summe ich es doch tatsächlich vor mich hin. "We Wish You A Merry Christmas, We Wish You A Merry Christmas, We Wish You A Merry Christmas And A Happy New Year…"
Sein Name ist Sayid Jarrah. Er bittet mich herein und stellt mich seiner Verlobten Noor Abed Jazeem vor. Sie bietet mir Tee an und verschwindet dann in der Küche, um ihn zuzubereiten. Sayid und ich sitzen in seinem Arbeitszimmer mit Blick auf die Ostseite Bromfords und die beiden, inzwischen höchsten Gebäude der Stadt. Die Luft draußen ist klar und kalt, und es blinken wieder viele Lichter in der Dunkelheit.
"Ja, ich bin Iraker", sagt Jarrah nach einer Weile mit einem kaum noch hörbaren, morgenländischen Akzent. "Ja, ich war Soldat in der irakischen Republikanischen Garde. Und ja, ich habe während und nach dem Zweiten Golfkrieg mit den Amerikanern kollaboriert." Ich habe ihm keine Fragen gestellt und ganz bestimmt nicht von ihm erwartet, dass er mir sein ganzes Leben beichtet.
Noor, die er liebevoll "Nadia" nennt, bringt uns den aromatischen Minztee, gießt ihn in kleine, silberne Teetassen und zieht sich dann wortlos lächelnd zurück. Sayid sieht ihr lange und versonnen nach. Er scheint sehr verliebt in ihre kaffeebraune Haut, ihre dunkelbraunen Augen und ihr offenes, schwarzes Haar.
"Ja, wir sind Mohammedaner, wir sind Muslime", fährt er fort und nimmt dabei einen kleinen Schluck Tee. "Wir sind keine Fanatiker und befolgen sicher nicht immer alle Regeln und Gesetze aus dem Koran. Gut, wir glauben nicht an Euren Jesus Christus. Und wir glauben bestimmt nicht, dass er Allahs Sohn ist, höchstens ein weiterer seiner Propheten, von denen Mohammed der bedeutendste ist. Aber ist nicht der Gott aller monotheistischen Weltreligionen der gleiche? Ist es schlimm, wenn ich das sage? Ist es ketzerisch?"
Er reißt seine dunklen Augen auf und sieht mich fragend an, aber ich kann nur mit den Schultern zucken, denn ich weiß nicht, worauf er hinaus will. Und für einen religiösen Disput fühle ich mich gerade nicht gläubig genug und zu schlecht vorbereitet. "Ein anderer Glaube", fährt er fort, "eine andere Hautfarbe machen uns doch noch nicht zu fanatischen Terroristen und Selbstmordattentätern. Wir sind doch nur in Euer Land gekommen, um endlich in Ruhe und Frieden leben zu können, egal, welcher Schmerz und welche Verbrechen in der Vergangenheit waren."
Seine Teetasse steht inzwischen auf der Fensterbank, und er hat mich am Kragen gepackt. Er schüttelt mich durch. Je tiefer ich ihm in die Augen schaue, desto deutlicher sehe ich, dass ein wirklich gefährlicher Mann in seinem Inneren steckt. "Es ist gut, Liebling!" Nadia steht neben ihm und legt ihm eine Hand beruhigend auf den Oberarm. "Niemand hier klagt Dich an. Niemand will Dir etwas Böses."
Sayid Jarrah nickt, lässt mich los und nimmt seine Teetasse wieder auf. Er starrt düster hinaus auf die beiden hohen Bürotürme vor dem Nachthimmel. Nadia nickt mir zu und gibt mir ein Zeichen, sie sei gleich nebenan und bereit, ihn wieder zu beruhigen, sollte er noch einmal die Beherrschung verlieren.
Den Rest des Abends verliert er sich in vagen Erzählungen über seine Vergangenheit, wie er einmal ein Huhn geschlachtet hätte, weil sein Bruder zu gutmütig dazu gewesen sei. Wie er für den Irak gekämpft hätte, und wie die Amerikaner seine Verhörmethoden genutzt hätten, weil er Englisch sprach. Wie er für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet hätte und wie er auf der Suche nach seiner Nadia um den ganzen Erdball geflogen sei.
Zum Abschied drückt er mich kurz an sich. "Bromford Bibble", verkündet er feierlich, "Du bist ein wahrer Freund!" Nadia winkt mir hinter seinem Rücken aus dem hinteren Teil der Wohnung zu. Er bemerkt es und lächelt sie strahlend an. "Sie ist das Beste, das mir je passiert ist", flüstert er mir verschwörerisch zu. Dann trübt sich sein Blick wieder ein. "Aber warum habe ich dann die ganze Zeit das Gefühl, dass sie nicht meine Seelenverwandte ist? Dass es irgendwo da draußen eine andere Seelenpartnerin für mich gibt?" Wieder diese fragenden, beinahe verzweifelten Blicke. "Wer es glaubt, wird selig? Und wer es nicht glaubt, kommt auch in den Himmel? Kennst Du jemanden namens Shannon?"
Und das sind alles Fragen, die ich ihm nicht beantworten kann, von denen ich nicht einmal weiß, ob er wirklich von mir darauf eine Antwort erwartet.
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