Vierter Stock rechts
Er ist ein freundlicher und fröhlicher junger Mann. Ein Berg von einem Mann, oder eher ein gewaltiger Felsbrocken mit enormen Körperausmaßen. Eine Figur wie ein übergewichtiger Bär mit einem Herzen aus Gold, so kommt es mir vor. Seine langen, lockigen Haare wippen lustig auf und ab, wenn er den Kopf bewegt. Er trägt Jeans in Übergröße und ein weites, kariertes Flanellhemd, wie es Holzfäller oder Grunge-Musiker tragen würden.
"Alter, das ist eine Spitzenidee, sich mal bei allen Nachbarn vorzustellen", bricht es aus ihm heraus, während er mir Kartoffelchips aus einer Plastiktüte anbiete. "Hätte ich auch schon längst mal machen sollen!" stößt er mit vollem Mund hervor. Dann wird er nachdenklich. Im Grunde kenne er keinen seiner Nachbarn näher, obwohl er sich mit einigen von Ihnen seltsam verbunden fühle, ohne so recht zu wissen, warum. Besonders, wenn er an die Bewohner der Apartments 4, 15, 16 und den schrägen Vogel aus Apartment 23 denke, überkäme ihn so ein eigenartiges Gefühl von Vertrautheit und Vorahnung. Aber auch dem Piloten aus Apartment 2, der hübschen Schriftstellerin aus der 11 und dem Pärchen aus Apartment 20 fühle er sich eigentümlich nahe, auch wenn er letzteres nicht verstehen könne, da sie irgendeine asiatische Fremdsprache sprächen.
Sein Name ist Hugo Reyes, aber Freunde, zu denen er mich schon nach wenigen Augenblicken zählt, dürfen ihn "Hurley" nennen. Er selbst nennt sich selbst auch so und mich nennt er "Dude!", eine Bezeichnung, die ich eher mit wandernden Riesenschildkröten im ostaustralischen Strom aus einem computer-animierten Trickfilm über orange-weiße und vermisste Clownsfische in Verbindung bringe.
"Eigentlich bin ich der glücklichste Mann der Welt", meint er unvermittelt. Dann berichtet er von seinem Millionen-Lottogewinn und seiner Kette von Schnellrestaurants, in denen ausschließlich Hühnerfleisch in allen möglichen Zubereitungsformen serviert wird. "Früher habe ich in einem von denen im Fett gestanden und Hähnchenkeulen gegrillt. Und heute gehören mir die Läden. So ändern sich die Zeiten", lacht er. Dann erzählt er mir von der "schicken Hütte", die er seinen Eltern gekauft hätte, und davon, dass sich die beiden gerade erst wieder versöhnt hätten nach jahrzehntelanger Funkstille, um dann schließlich eher kleinlaut zu gestehen, dass er sich dieses Apartment in der Whitaker Lane 666 nur deshalb gekauft hätte, weil er es schon nach kürzester Zeit nicht mehr ausgehalten hätte mit seinen alten Herrschaften unter einem Dach, egal wie groß die neue Hütte auch sei.
"Klein, aber mein, Alter!" grinst er und zeigt mir seine für einen Millionär äußerst schlicht eingerichteten Räumlichkeiten. Dann stellen wir fest, dass alle Apartments und Wohnungen in diesem Haus, das einmal das höchste Gebäude in Bromford war, Eigentumswohnungen sind. Keine ist an dritte vermietet, alle werden von ihren Besitzern bewohnt. Und während ich mich noch frage, ob das Penthouse auf dem Dach dieses Hauses wirklich mir gehört, und ob "Alter!" eigentlich eine adäquate Übersetzung für "Dude!" ist, neigt sich ein angenehmer und erfreulicher Abend auch schon wieder dem Ende zu.
Vielleicht würde ich in den nächsten Tagen eine Einladung zu einer Weihnachts-Hausbewohner-Kennenlern-Feier in einem seiner Restaurants in meinem Briefkasten finden, ruft mir Hurley noch hinterher. "Wirklich eine Spitzenidee, mal alle kennenzulernen, Alter!"
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