Friday, December 24, 2010

Apartment 24

Fünfzehnter Stock

Wieder kein Namensschild, kein Türspion und keine Türklingel am Eingang zu Apartment vierundzwanzig. Nun kommt schon! Soll es so enden? Da bin ich in den letzten drei Wochen in fünfzehn Etagen und zweiundzwanzig Wohnungen gewesen und ausgerechnet in der letzten soll wieder niemand wohnen? Bei Apartment dreizehn habe ich mir das ja noch gefallen lassen. Wer will schon jemanden kennenlernen, der in einer Wohnung mit der Unglücksnummer wohnt, obwohl es noch schlimmer gewesen wäre, die Wohnung mit der Nummer dreizehn wäre auch noch im dreizehnten Stockwerk gewesen. Aber gerade am heutigen Tag hatte ich mich auf eine ganz besondere Begegnung gefreut. Dies hier ist die Wohnung direkt unter meinem Penthouse, das ich auch gerne meine Dachgeschosswohnung nenne, obwohl es doch mehr von einem richtigen, wenn auch nur eingeschossigen Flachdachhaus hat. Hier in Apartment vierundzwanzig wohnen die Leute, die an die Decke klopfen, wenn ich meine Musik zu laut oder mal wieder einen Tanz- und Hüpfanfall habe. Hier will ich die Leute kennenlernen, für die ich vielleicht in Zukunft nur noch auf Socken durch meine Räumlichkeiten schleichen und auf Tanz- und Hüpfanfälle verzichten würde, weil ich sie so nett fände.

Noch bevor ich an die Wohnungstür klopfen kann, schwingt diese still und leise nach Innen auf. Eine eigentümliche Kälte weht mir entgegen. Nicht ganz so kalt wie die Temperaturen und die Witterung des eisigen Winters draußen, aber auch nicht so warm wie im Rest des Hauses. Aus der Wohnung strömt eine Kälte, aber auch eine geheimnisvolle Stille. Gerade wollte ich noch irgendetwas rufen, um zu prüfen, ob jemand da drinnen ist, aber es verschlägt mir im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Eine Gänsehaut krabbelt an meinem Rückgrat hinauf und breitet sich bis auf meine Unterarme aus. Alles in mir sträubt sich dagegen, doch meine Füße tragen mich ganz von allein, Schritt für Schritt durch die Tür, die auch prompt hinter mir ins Schloss fällt.

Auch Apartment vierundzwanzig hat einen großen, herrschaftlichen Eingangsbereich mit Decken und Wänden, die viel zu hoch zu sein scheinen für die eigentliche Raumhöhe. Nur dieser Eingangsbereich ist vollkommen leer. Die Wände wirken wie aus ziegelsteingroßen Marmorquadern gemauert, und der Fußboden hat einen Belag, der an weißen Sand erinnert. Mein Kopf fällt staunend in den Nacken, und mein Blick richtet sich langsam in Richtung Decke. Aber gibt es da überhaupt eine Decke? Es scheint, als verlören sich die Wände in großer Höhe in einem undurchdringlichen Zwielicht. Mir wird schwindelig.

Direkt gegenüber der Eingangstür führt, wie auch schon in einigen anderen Wohnungen, ein schmaler Gang in den hinteren Bereich. Ich gehe langsam darauf zu. Auch die beiden Wände links und rechts scheinen sich in einer unerklärlichen Ferne zu verlieren, ganz abgesehen davon, dass keine Türen in ihnen sind, die in angrenzende Räume führen könnten. Und je weiter ich den Gang entlang gehe, desto undurchsichtiger wird er. Um mich herum wird es nicht dunkel im eigentlichen Sinne. Im Gegenteil scheint es sogar heller zu werden, aber es ist, als fülle ich der Gang mit einem geruch- und geschmacklosen Nebel. Nebel? In einem Wohnhaus in der Whitaker Lane in Bromford? Ein so hoher Wolkenkratzer ist dieses Haus nun auch wieder nicht, obwohl ich mich immer wieder frage, ob höhere Wolkenkratzer in – sagen wir New York – tatsächlich an den Wolken kratzen, ob man im hundertsten Stockwerk des Empire State Buildings, beispielsweise, die Wolken hereinlassen könnte, würde man die Fenster öffnen.

Dann verliere ich den Boden unter den Füßen. Es ist nicht, als würde ich stürzen oder fallen, nein, ich verliere einfach den Boden unter den Füßen, als hätte jemand die Schwerkraft abgestellt, und ich schwebe einfach vom Boden in Richtung Decke. Nur, dass da nun definitiv keine Zimmerdecke mehr ist. Da ist einfach nur Leere, samten schwarze und schwerelose Leere, die zugleich blendend weiß und hell ist.

Ich muss an meine jüngsten Ausflüge in Raumschiffen in Erdumlaufbahnen denken und daran, ob ich heute meine Tagesdosis Medizin schon genommen habe. Es ist nicht die Zeit für eine neue Auszeit, nicht die Zeit für erneute Aufenthalte in Einrichtungen, in denen ich wieder Anonymous, meinem Blogkommenterroristen begegnen würde. Ich habe doch noch so viel vor. Ich habe doch noch so viele Pläne. Ich muss einfach auf dem Boden der Tatsachen bleiben, kann es mir nicht erlauben, abzuheben. Ich kann nicht immer entzweigerissen sein. Ich werde auf viele Jahre ganz und heil sein müssen. Es gibt noch so viel, woran ich mich freuen und was ich sein und tun kann. Wer legt mir diese Gedanken in den Kopf und in diesen Worten? Sind das wirklich leuchtende Sterne da um mich herum?

Plötzlich setzt ein jubelnder Gesang ein wie von unendlich vielen, unsichtbaren Engelschören:

Hosanna Heysanna Sanna Sanna Ho
Sanna Hey Sanna Ho Sanna
Hey, JC, JC won't you smile at me?
Sanna Ho Sanna Hey Superstar

Woher kenne ich diese eingängige Melodie? Und wen meinen diese unirdischen Stimmen mit "Superstar"? Dann sehe ich einen weiteren Mann, der, wie ich, aufrecht stehend durch die sternenklare Leere schwebt. Er trägt ein langes, weißes Gewand, das in fließenden Bewegungen seine Füße umspielt, die in einfachen Ledersandalen stecken. Er hat langes, braunes Haar und einen ebenso langen Vollbart. Er breitet die Arme aus, als er auf mich zugeflogen kommt.

Hosanna Heysanna Sanna Sanna Ho
Sanna Hey Sanna Ho Sanna
Hey, JC, JC you're alright by me
Sanna Ho Sanna Hey Superstar

"Was machst Du hier, Bromford Bibble?" fragt mich der bärtige Jesustyp. Ich denke es und erschrecke fast zu Tode bei meinem eigenen Gedanken. Ist das…? Kann das…? Darf das…?

Hosanna Heysanna Sanna Sanna Ho
Sanna Hey Sanna Ho Sanna
Hey, JC, JC won't you fight for me?
Sanna Ho Sanna Hey Superstar

"Ob ich der bin, dessen Geburt sie heute zum zweitausendundzehnten Mal feiern? Ist es das, was Du wissen willst, Bromford Bibble?" Kann er meine Gedanken lesen? Wenn er der ist, der ich glaube, dass er es ist, wäre es nicht verwunderlich, wenn er es könnte. "Das war natürlich nur meine erste Geburt, damals in jenem Stall in Bethlehem. Und Du kannst mich nennen, wie Du willst. Von mir aus auch Jacob. Ob ich ein oder sogar der Gottessohn bin, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich immer versucht habe, das richtige zu sein und zu sagen und zu tun."

Ich bin kein religiöser Mensch, wahrhaftig nicht. Ich glaube nicht, an den "lieben Gott" als alten, weisen Mann mit langem weißen Bart, der über den Wolken hockt und auf seine Schäfchen aufpasst und ihre Geschicke lenkt. Ich glaube auch nicht an seinen eingeborenen Sohn, der vom Tode auferstanden ist, um die Sünden der ganzen Menschheit auf sich zu laden und anschließend doch in den Himmel aufzufahren. Ich glaube an die Mächtigen und Religionsstifter dieser Welt, die einen Kult und später eine ganze Weltreligion um einen einfachen Mann gestrickt haben, der immer nur versucht hat, das richtige zu tun und zu sagen. Und ich glaube nicht an Visionen und Offenbarungen.

"Und was machst Du hier so?" frage ich den Typen im langen, weißen Gewand, den ich Jacob nennen darf. "Es wird mal wieder Zeit, Euch da unten einen Besuch abzustatten!" meint er grinsend. "Aber im Moment schwebe ich noch im All herum auf der Suche nach ein paar vernünftigen Eltern. Unbefleckte Empfängnis scheint irgendwie out zu sein."

"Und?" frage ich, weil es mir gerade in den Sinn kommt. "Bist Du dann der Antichrist? Ist das dann das Ende der Welt, wenn Du noch einmal auf sie hinabsteigst?" Er lacht laut und herzlich auf, wobei seine lange, gelockte Mähne in Wallung gerät, etwas das sie in der Luftleere des Vakuums eigentlich nicht tun sollte. "Oh, Bromford!" lacht er noch immer, aber jetzt noch viel freundlicher und herzlicher. "Du solltest das Buch der Bücher noch einmal genauer lesen. Und jetzt mach', dass Du zurück kommst in Dein Penthouse auf dem Dach des Hauses in der Whitaker Lane 666 in Bromford, der freundlichen Stadt am Meer. Die Apokalypse muss noch etwas warten. Für heute wurde sie abgesagt. Aber ich wünsche Dir

Frohe Weihnachten und ein Gutes Neues Jahr!"

1 comment:

  1. Oh, Bromford!
    Mach' endlich das Licht und den PC aus!
    Es ist mitten in der Nacht!
    Und Weihnachtsgeschenke gibt es erst heute Abend zur Bescherung, nicht um Punkt Mitternacht!

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