Saturday, December 11, 2010

Apartment 11

Sechster Stock

Das erste, große Apartment, das sich über eine ganze Etage ausbreitet, also so groß ist wie zwei Wohnungen, die sich bislang ein Stockwerk geteilt haben. Kathrine Jane Austen? Woher kenne ich nur diesen Namen? Ist sie irgendeine Berühmtheit? Kenne ich den Namen aus diesen Klatschmagazinen, die immer beim Friseur oder beim Arzt im Wartezimmer ausliegen?

Eine rundliche, asiatische Frau in einer gestärkten Schürze öffnet auf mein Klingeln hin die Tür. "Miss Austen?" frage ich, doch die kleine Frau lächelt nur. "Mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit über einem Jahr Bewohner des…" Und die kleine Frau lächelt weiter und schüttelt dabei den Kopf. "Ich nichts…"

"Mai Ling, wo bleibst Du denn? Wer ist denn da?" hallt da eine zweite weibliche Stimme durch die Wohnung. Die kleine, asiatische Frau fühlt sich angesprochen und deutet mir verschreckt an, ihr zu folgen.

Sie sitzt im Wohnzimmer auf einem dick gepolsterten, erhabenen Stuhl, der ein wenig an einen Thron erinnert. Aber Sitzen kann man es eigentlich nicht nennen. Sie liegt eher, in einen seidenen Morgenmantel gekleidet, der fließend um sie und über den Stuhl fällt, hingestreckt und feilt sich die Fingernägel. Dabei schüttelt sie immer wieder ihr langes, braunes Haar und wirft es sich in den Nacken. Mai Ling kehrt in eine hockende Stellung zu ihren nackten Füßen zurück und fährt mit ihrer Pediküre fort, um ihr anschließend die Fußnägel in einem violetten Pflaumenton zu lackieren.

An einer der Wände, beleuchtet von vier Halogenstrahlern, hängt ein überlebensgroßes Plakat, das die Frau auf dem Stuhl zeigt. Sie lächelt mit gebleichten Zähnen und hält ein Buch mit dem Deckel in Richtung des Betrachters. Darunter steht in leuchtend roten Buchstaben: "Kathrine Jane Austen stürmt die Bestsellerlisten". Jetzt erkenne ich sie. Das ist Kathrine Jane Austen, Möchtegern-Schriftstellerin aber vor allem Tochter von Charles Desmond Austen, einem weltweiten Waffenhändler, Lobbyisten und Multimilliardär.

Sie schreibt Liebesschnulzen, die im 18. Jahrhundert spielen, in denen sich regelmäßig ehrbare, adelige Fräuleins in ihre Kutscher oder Stallburschen verlieben oder wahlweise ältere Lords in ihre ehrbaren, aber armen Stubenmädchen. Diese Bücher tragen entweder alle Frauennamen wie "Claire" oder "Juliet", wenn Frauen die Hauptpersonen, oder Wortkombinationen wie "Stolz und Traurigkeit" oder "Sinn und Übersinn", wenn die Hauptakteure männlich sind. Mit ihren mehr als dürftigen Machwerken hat sie einige Male, sehr zur Verwunderung aller Literaturkritiker und auch der Buchhändler, die Spitzen der Bestsellerlisten der renommiertesten Wochenmagazine und Kaufhäuser des Landes gestürmt, bis herauskam, dass die gesamten, irrsinnigen Auflagen gar nicht erst in die Läden gekommen sondern samt und sonders von ihrem eigenen Vater aufgekauft worden waren. Was Miss Austen allerdings nicht davon abhält, sich noch immer als literarisches Genie zu verstehen und als angehende Literatur-Nobelpreisträgerin zu sehen.

"Sind Sie der Reporter von der 'Weltzeit'?" fragt sie, ohne von ihren Nägeln aufzuschauen. "Sie sind zu früh. Aber ich werde Ihnen von meinen neusten Buchplänen erzählen. Ein armes, hübsches Bauernmädchen verbrennt das Haus mit ihrem Stiefvater darin, um ihre Mutter vor ihm zu retten. Aber ihre Mutter verstößt sie und zeigt sie bei der Strafverfolgung an. Das arme, aber bezaubernde Mädchen muss also fliehen und wird schon bald von einem gutaussehenden, adeligen Polizisten gejagt. Er fängt sie schließlich, aber das ist erst der Beginn der Geschichte." Dann faucht sie ihre asiatische Angestellte an: "Beeilung, wenn ich bitten darf, Mai Ling!"

Kann es sein, dass dieser Plot, den sie da gerade beschrieben hat, interessanter sein könnte, als alles, was sie bisher veröffentlicht hat? Sollte Miss Austen tatsächlich gelernt haben, Geschichten zu erzählen und sie niederzuschreiben? Doch dann fährt sie fort: "Und schließlich verlieben sich das Bauernmädchen und der Polizist ineinander." Nein, wird sicherlich nur wieder einer ihrer schnulzigen Standard-Schundromane.

"Ich bin kein Reporter", sage ich. "Dann sind Sie ein Fan und wollen ein Autogramm!" ruft sie erfreut aus. "Mai Ling, meine Autogrammkarten, aber Zack! Zack! Es ist wunderbar bis in die eigene Wohnung gestalkt zu werden. Sie sind mein erster und bislang einziger Stalker." Sie scheint ganz aus dem Häuschen zu sein vor Begeisterung.

"Eigentlich bin ich nur Ihr Nachbar", antworte ich, und es ist mir fast unangenehm, dass ich sie nicht auf Schritt und Tritt verfolge, wie sie es sich offenbar erträumt. "Mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit über einem Jahr Bewohner des Penthouses auf dem Dach dieses Gebäudes. Ich wollte mich nun endlich einmal offiziell bei Ihnen vorstellen!"

"Oh!" sagt sie und rafft ihren Morgenrock am Hals zusammen. "Wissen Sie, das passt mir gerade gar nicht. Wie Sie sehen, bekomme ich gerade eine Pediküre und bin nicht richtig angezogen. Können wir das Ganze nicht verschieben auf … sagen wir, das nächste Leben!" Falls das eine bissige Bemerkung gewesen sein sollte, hat sie den Ton verfehlt. Ihre strahlend grünen Augen starren an mir vorbei ins Leere. Es ist als spiegelten sich grüner Urwald und der Strand und das Meer einer einsamen Insel darin.

"Ich habe Angst vor Flugzeugabstürzen und davor eingesperrt zu sein", haucht sie. "Und als Kind hatte ich nie ein Pferd." Hohe Wellen brechen sich schäumend an einer felsigen Küste, wenn ich in ihre Augen blicke. "Und nennen Sie mich nicht Kate oder Sommersprosse!"

Dann schüttelt sie den Kopf und was auch immer gerade geschehen ist, ist vorbei. "Raus jetzt!" Keift sie mich an. "Ich habe keine Zeit für lästige Nachbarn und Brot und Salz zum Einzug oder ähnlichen Quatsch. Mai Ling, begleite den Herrn hinaus!"

Und unter ständigen, freundlichen Verbeugungen werde ich von der rundlichen, kleinen Frau in den Vorraum der Wohnung und in Richtung Fahrstuhl gedrängt. Und in meinem Inneren kann ich das Meer und Palmen im Wind rauschen hören.

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