Neunter Stock
Die Klingel ist abgestellt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die ganze Etage hat keinen Strom, wirkt wie aus dem vor-vorigen Jahrhundert, nur beleuchtet mit Öllampen und Kerzen. Aber ich bin doch mit dem Fahrstuhl hier herauf gekommen. Oder würde der auch in einer Etage funktionieren und anhalten, in der es keinen Strom gibt?
Es ist wieder eine der größeren Wohnungen. Eingangstür direkt neben dem Fahrstuhl. Wahlweise öffnet sich der Fahrstuhl auch direkt in die Wohnung, wenn man den richtigen Schlüssel hat. Und kein langer Flur an der Westseite des Gebäudes entlang von Norden her in Richtung Süden mit einem großen Panoramafenster am Ende. Zumindest nicht außerhalb dieser großen Wohnung, wo er in den unteren Stockwerken zwei Wohnungen miteinander verbindet.
Die Initialen "M.D." stehen auf dem goldenen Namensschild, mehr nicht. Sie scheinen im Glanz einer Kerze zu leuchten, die das Treppenhaus und den kleinen Raum vor dem Fahrstuhl erhellt.
Als ich an die Tür klopfen will, schwingt diese leicht nach innen auf. Ich lausche, und selbst, als ich nichts aus dem Inneren höre, trete ich vorsichtig ein. Und schon glaube ich, nicht mehr im Haus in der Whitaker Lane 666 zu sein, sondern eher im großzügigen Foyer eines noblen Luxushotels. Die Wände sind nicht tapeziert sondern mit einem samtenen, violett-roten Stoff bespannt. Direkt gegenüber der Eingangstür öffnet sich eine doppelflügelige Mahagonitür weit in den hinteren Teil der Wohnung. Rechts und links davon stehen zwei edle und antike Plüschsofas an der Wand. Ebenfalls rechts und links der offenen Doppeltür hängen zwei riesige Spiegel mit reich verzierten Goldrahmen, doch die eigentlichen Blickfänge sind zwei meterhohe Filmplakate, die hinter Glas gerahmt jeweils neben den Spiegeln hängen.
Beide Plakate zeigen die gleiche Frau, eine schlanke Filmdiva vom Anfang des letzten Jahrhunderts in aufwendigen Roben. Auf beiden ist das Gesicht der Frau nicht zu erkennen. Auf einem trägt sie einen schwarzen Trauerschleier zu einem dramatisch großen Hut, auf dem anderen ein Hochzeitskleid mit dünnem, weißem Schleier. DIE GÖTTLICHE und DER SCHWARZE ENGEL verkünden große, leuchtende Buchstaben die Titel der Filme. Der Name der Hauptdarstellerin jedoch wurde kunstvoll geschwärzt, sodass nur noch die Initialen "M.D." übrig geblieben sind.
Und auch hier in diesem pompösen Eingangsbereich kein elektrisches Licht, nur flackernde und zischende Öllampen.
"Sind Sie der Lieferant?" schallt da plötzlich eine tiefe, tönende und zugleich kratzige Stimme aus dem hinteren Teil der Wohnung. Ich glaube, einen fremdländischen, vielleicht slawischen Akzent heraushören zu können. Langsam bewege ich mich auf die Stimme zu durch die weit geöffnete Doppeltür.
"Nein", antworte ich wahrheitsgemäß. "Mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit…"
Ich bin am Wohnzimmer angekommen. Durch eine weitere geöffnete Tür kann ich die sitzende Gestalt einer offenbar sehr alten Frau erkennen. Sie trägt ein altmodisches, aber elegantes, helles Kleid und sitzt in einem Sessel, ein aufgeschlagenes Buch in den schrumpeligen und krummen Fingern auf ihrem Schoss. Und sie trägt einen hellen Hut mit einem Schleier vor dem Gesicht, unter dem sich nur die Umrisse einer großen, dicken Brille abzeichnen.
"Hinaus!" brüllt sie, und ihre tiefe, brummige Stimme überschlägt sich beinahe dabei. "Er soll verschwinden, wenn er nicht der Lieferant ist!" Sie wendet das Gesicht von der Tür ab und hält die faltigen Hände schützend an ihren Kopf. "Wir drehen seit sechzig Jahren keine Filme mehr! Wir geben seit fünfzig Jahren keine Interviews mehr und haben seit vierzig Jahren diese Wohnung nicht verlassen! Könnt ihr uns nicht endlich in Ruhe lassen? Müsst ihr uns denn ständig verfolgen? Hinaus! Alma! Wo ist Alma, wenn man sie braucht?"
Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. In diesem Moment spüre ich einen Lufthauch von der Eingangstür her, und die Kerzen und Lampen beginnen im Zug zu flackern. Dort steht eine große, schlanke und grauhaarige Frau, die die Sechzig auch schon eine Weile hinter sich gelassen hat.
"Alma, wo ist nur meine Alma!" jammert die verhüllte Gestalt im Wohnzimmer weiterhin theatralisch. Die Frau an der Eingangstür stellt die prall gefüllten Einkaufstüten, die sie mitgebracht hat, im Eingangsbereich ab und hastet an mir vorbei zu der noch älteren Frau in ihrem Sessel. Behutsam nimmt sie die Hände der Frau in ihre und führt sie sanft aus ihrer schützenden und verkrampften Haltung am Kopf herunter, zurück in den Schoss der Frau im Sessel.
"Ich bin doch hier, Madam", redet sie beruhigend auf die andere ein, "Ihre Alma ist genau hier!" - "Machen Sie, dass er weg geht!" schluchzt die alte Frau. "Er soll uns nicht so sehen! Er soll weg gehen."
Alma nickt, kommt dann mit raschen Schritten zu mir auf den Flur und zieht im Gehen die Wohnzimmertür hinter sich zu. "Wer auch immer Sie sind", flüstert sie mir zu, "Sie sind hier nicht erwünscht. Bitte gehen Sie, und kommen Sie nie wieder hierher!" Mit diesen Worten schiebt sie mich aus der Wohnungstür hinaus in Richtung Fahrstuhl.
In der Sekunde, bevor sich die Tür zu Apartment 14 schließt, fällt mein Blick noch einmal auf die beiden Filmplakate, und ich bin mir nun sicher, dass die verschleierte und verängstigte alte Frau im Wohnzimmer DER SCHWARZE ENGEL und DIE GÖTTLICHE aus diesen beiden Filmen ist.
Hey, dieses war der hundertste Post in diesem Blog.
ReplyDeleteIch bin quasi begeistert...