Saturday, December 25, 2010

Our House…

So, das soll es also gewesen sein? Das sind sie nun, meine Mitbewohner im Haus in der Whitaker Lane 666 in Bromford, der freundlichen Stadt am Meer? Ich sitze leicht verkatert in meinem Penthouse auf dem Dach und blicke durch die frostig klare Luft hinaus auf Eis und Schnee auf den Dächern der kleineren Häuser.

Ich weiß nicht, wie ich mich nun fühlen soll. Haben meine Besuche irgendwas geändert? Waren sie Maßnahmen gegen die Anonymität? Werden wir uns nun grüßen, wenn wir uns im Treppenhaus oder im Fahrstuhl begegnen? Vielleicht sollten wir ein Gruppenbild mit allen Hausbewohnern machen und es in den Eingangsbereich im ersten Stock hängen. Einzelne Fotos an den Briefkästen wären auch nicht schlecht, damit die Namen und Gesichter nicht in Vergessenheit geraten.

Andererseits sind diese Menschen Nachbarn, keine Freunde und schon gar keine Verwandten. Wir haben uns alle für die Wohnungen entschieden, nicht für die Menschen, die um sie herum leben. Familie, das sind Menschen, mit denen man verbunden ist, ob man will oder nicht, aber Nachbarn? Zu denen braucht man keinen Kontakt aufzunehmen und muss sich dafür nicht einmal eine Ausrede einfallen lassen. Auf eine Einladung zu einer "Weihnachts-Hausbewohner-Kennenlern-Feier" von Hugo Reyes in einem seiner Hühnchen-Restaurants warte ich übrigens auch noch immer vergeblich.

Wie hieß es noch im Lied "Our House" von Crosby, Stills, Nash & Young?

Our house
is a very, very fine house
with two cats in the yard,
life used to be so hard,
now everything is easy cause of you.

Gibt es Katzen in der Whitaker Lane 666? Ja, ich glaube, Roswitha Mauer hat welche, aber es gibt definitiv keinen "Yard". Und sind Katzen nicht Glückssymbole in irgendeinem Teil der Welt? Meine Gedanken schweifen wieder auf und davon. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen und wünsche allen alles, was sie sich auch wünschen.

Frohe Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr!
Merry Christmas and a Happy New Year!
Joyeux Noël et une Bonne et Heureuse Année.
Feliz Navidad y un Feliz Año Nuevo.
메리 크리스마스 새해 복 많이.

Friday, December 24, 2010

Apartment 24

Fünfzehnter Stock

Wieder kein Namensschild, kein Türspion und keine Türklingel am Eingang zu Apartment vierundzwanzig. Nun kommt schon! Soll es so enden? Da bin ich in den letzten drei Wochen in fünfzehn Etagen und zweiundzwanzig Wohnungen gewesen und ausgerechnet in der letzten soll wieder niemand wohnen? Bei Apartment dreizehn habe ich mir das ja noch gefallen lassen. Wer will schon jemanden kennenlernen, der in einer Wohnung mit der Unglücksnummer wohnt, obwohl es noch schlimmer gewesen wäre, die Wohnung mit der Nummer dreizehn wäre auch noch im dreizehnten Stockwerk gewesen. Aber gerade am heutigen Tag hatte ich mich auf eine ganz besondere Begegnung gefreut. Dies hier ist die Wohnung direkt unter meinem Penthouse, das ich auch gerne meine Dachgeschosswohnung nenne, obwohl es doch mehr von einem richtigen, wenn auch nur eingeschossigen Flachdachhaus hat. Hier in Apartment vierundzwanzig wohnen die Leute, die an die Decke klopfen, wenn ich meine Musik zu laut oder mal wieder einen Tanz- und Hüpfanfall habe. Hier will ich die Leute kennenlernen, für die ich vielleicht in Zukunft nur noch auf Socken durch meine Räumlichkeiten schleichen und auf Tanz- und Hüpfanfälle verzichten würde, weil ich sie so nett fände.

Noch bevor ich an die Wohnungstür klopfen kann, schwingt diese still und leise nach Innen auf. Eine eigentümliche Kälte weht mir entgegen. Nicht ganz so kalt wie die Temperaturen und die Witterung des eisigen Winters draußen, aber auch nicht so warm wie im Rest des Hauses. Aus der Wohnung strömt eine Kälte, aber auch eine geheimnisvolle Stille. Gerade wollte ich noch irgendetwas rufen, um zu prüfen, ob jemand da drinnen ist, aber es verschlägt mir im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Eine Gänsehaut krabbelt an meinem Rückgrat hinauf und breitet sich bis auf meine Unterarme aus. Alles in mir sträubt sich dagegen, doch meine Füße tragen mich ganz von allein, Schritt für Schritt durch die Tür, die auch prompt hinter mir ins Schloss fällt.

Auch Apartment vierundzwanzig hat einen großen, herrschaftlichen Eingangsbereich mit Decken und Wänden, die viel zu hoch zu sein scheinen für die eigentliche Raumhöhe. Nur dieser Eingangsbereich ist vollkommen leer. Die Wände wirken wie aus ziegelsteingroßen Marmorquadern gemauert, und der Fußboden hat einen Belag, der an weißen Sand erinnert. Mein Kopf fällt staunend in den Nacken, und mein Blick richtet sich langsam in Richtung Decke. Aber gibt es da überhaupt eine Decke? Es scheint, als verlören sich die Wände in großer Höhe in einem undurchdringlichen Zwielicht. Mir wird schwindelig.

Direkt gegenüber der Eingangstür führt, wie auch schon in einigen anderen Wohnungen, ein schmaler Gang in den hinteren Bereich. Ich gehe langsam darauf zu. Auch die beiden Wände links und rechts scheinen sich in einer unerklärlichen Ferne zu verlieren, ganz abgesehen davon, dass keine Türen in ihnen sind, die in angrenzende Räume führen könnten. Und je weiter ich den Gang entlang gehe, desto undurchsichtiger wird er. Um mich herum wird es nicht dunkel im eigentlichen Sinne. Im Gegenteil scheint es sogar heller zu werden, aber es ist, als fülle ich der Gang mit einem geruch- und geschmacklosen Nebel. Nebel? In einem Wohnhaus in der Whitaker Lane in Bromford? Ein so hoher Wolkenkratzer ist dieses Haus nun auch wieder nicht, obwohl ich mich immer wieder frage, ob höhere Wolkenkratzer in – sagen wir New York – tatsächlich an den Wolken kratzen, ob man im hundertsten Stockwerk des Empire State Buildings, beispielsweise, die Wolken hereinlassen könnte, würde man die Fenster öffnen.

Dann verliere ich den Boden unter den Füßen. Es ist nicht, als würde ich stürzen oder fallen, nein, ich verliere einfach den Boden unter den Füßen, als hätte jemand die Schwerkraft abgestellt, und ich schwebe einfach vom Boden in Richtung Decke. Nur, dass da nun definitiv keine Zimmerdecke mehr ist. Da ist einfach nur Leere, samten schwarze und schwerelose Leere, die zugleich blendend weiß und hell ist.

Ich muss an meine jüngsten Ausflüge in Raumschiffen in Erdumlaufbahnen denken und daran, ob ich heute meine Tagesdosis Medizin schon genommen habe. Es ist nicht die Zeit für eine neue Auszeit, nicht die Zeit für erneute Aufenthalte in Einrichtungen, in denen ich wieder Anonymous, meinem Blogkommenterroristen begegnen würde. Ich habe doch noch so viel vor. Ich habe doch noch so viele Pläne. Ich muss einfach auf dem Boden der Tatsachen bleiben, kann es mir nicht erlauben, abzuheben. Ich kann nicht immer entzweigerissen sein. Ich werde auf viele Jahre ganz und heil sein müssen. Es gibt noch so viel, woran ich mich freuen und was ich sein und tun kann. Wer legt mir diese Gedanken in den Kopf und in diesen Worten? Sind das wirklich leuchtende Sterne da um mich herum?

Plötzlich setzt ein jubelnder Gesang ein wie von unendlich vielen, unsichtbaren Engelschören:

Hosanna Heysanna Sanna Sanna Ho
Sanna Hey Sanna Ho Sanna
Hey, JC, JC won't you smile at me?
Sanna Ho Sanna Hey Superstar

Woher kenne ich diese eingängige Melodie? Und wen meinen diese unirdischen Stimmen mit "Superstar"? Dann sehe ich einen weiteren Mann, der, wie ich, aufrecht stehend durch die sternenklare Leere schwebt. Er trägt ein langes, weißes Gewand, das in fließenden Bewegungen seine Füße umspielt, die in einfachen Ledersandalen stecken. Er hat langes, braunes Haar und einen ebenso langen Vollbart. Er breitet die Arme aus, als er auf mich zugeflogen kommt.

Hosanna Heysanna Sanna Sanna Ho
Sanna Hey Sanna Ho Sanna
Hey, JC, JC you're alright by me
Sanna Ho Sanna Hey Superstar

"Was machst Du hier, Bromford Bibble?" fragt mich der bärtige Jesustyp. Ich denke es und erschrecke fast zu Tode bei meinem eigenen Gedanken. Ist das…? Kann das…? Darf das…?

Hosanna Heysanna Sanna Sanna Ho
Sanna Hey Sanna Ho Sanna
Hey, JC, JC won't you fight for me?
Sanna Ho Sanna Hey Superstar

"Ob ich der bin, dessen Geburt sie heute zum zweitausendundzehnten Mal feiern? Ist es das, was Du wissen willst, Bromford Bibble?" Kann er meine Gedanken lesen? Wenn er der ist, der ich glaube, dass er es ist, wäre es nicht verwunderlich, wenn er es könnte. "Das war natürlich nur meine erste Geburt, damals in jenem Stall in Bethlehem. Und Du kannst mich nennen, wie Du willst. Von mir aus auch Jacob. Ob ich ein oder sogar der Gottessohn bin, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich immer versucht habe, das richtige zu sein und zu sagen und zu tun."

Ich bin kein religiöser Mensch, wahrhaftig nicht. Ich glaube nicht, an den "lieben Gott" als alten, weisen Mann mit langem weißen Bart, der über den Wolken hockt und auf seine Schäfchen aufpasst und ihre Geschicke lenkt. Ich glaube auch nicht an seinen eingeborenen Sohn, der vom Tode auferstanden ist, um die Sünden der ganzen Menschheit auf sich zu laden und anschließend doch in den Himmel aufzufahren. Ich glaube an die Mächtigen und Religionsstifter dieser Welt, die einen Kult und später eine ganze Weltreligion um einen einfachen Mann gestrickt haben, der immer nur versucht hat, das richtige zu tun und zu sagen. Und ich glaube nicht an Visionen und Offenbarungen.

"Und was machst Du hier so?" frage ich den Typen im langen, weißen Gewand, den ich Jacob nennen darf. "Es wird mal wieder Zeit, Euch da unten einen Besuch abzustatten!" meint er grinsend. "Aber im Moment schwebe ich noch im All herum auf der Suche nach ein paar vernünftigen Eltern. Unbefleckte Empfängnis scheint irgendwie out zu sein."

"Und?" frage ich, weil es mir gerade in den Sinn kommt. "Bist Du dann der Antichrist? Ist das dann das Ende der Welt, wenn Du noch einmal auf sie hinabsteigst?" Er lacht laut und herzlich auf, wobei seine lange, gelockte Mähne in Wallung gerät, etwas das sie in der Luftleere des Vakuums eigentlich nicht tun sollte. "Oh, Bromford!" lacht er noch immer, aber jetzt noch viel freundlicher und herzlicher. "Du solltest das Buch der Bücher noch einmal genauer lesen. Und jetzt mach', dass Du zurück kommst in Dein Penthouse auf dem Dach des Hauses in der Whitaker Lane 666 in Bromford, der freundlichen Stadt am Meer. Die Apokalypse muss noch etwas warten. Für heute wurde sie abgesagt. Aber ich wünsche Dir

Frohe Weihnachten und ein Gutes Neues Jahr!"

Thursday, December 23, 2010

Apartment 23

Vierzehnter Stock

Er ist ein Mann Mitte vierzig mit einem zotteligen, dunklen Bart mit grauen Strähnen, der aussieht, als wäre er in erstaunlich kurzer Zeit sehr lang gewachsen. Mit dem irren und gehetzten Blick eines Alkoholikers oder sonstigen Süchtigen schaut er immer wieder über meine Schulter ins Treppenhaus, als er mich in seine Wohnung lässt.

Sein Name ist Doktor Jack Shepard, und irgendjemand sagte mir, er sei Wirbelsäulenchirurg. Nur lasse man ihn in letzter Zeit nicht mehr auf Patienten los, egal wie gut er zuvor gewesen sei. Wenn ich ihn mir so betrachte, verstehe ich auch langsam, warum. Es scheint ihm schwer zu fallen, einen bestimmten Punkt mit den Augen zu fixieren. Sein Blick wandert in beunruhigender Geschwindigkeit kreuz und quer durch den Raum. Seine Hände zittern, während er sie unentwegt ineinander wringt. Nicht auszudenken, was mit einem Patienten auf dem Operationstisch geschehen würde, würde er versuchen ihn in seinem derzeitigen Zustand zu operieren.

"Gut! Gut!" murmelt er. "Sie hatte ich nicht erwartet. Sie gehören nicht dazu. Sie sind kein Kandidat." Er trägt eine fleckige Hose und nur ein schmuddeliges Feinrippunterhemd, das eine Tätowierung auf seinem linken Oberarm sichtbar macht, und ein Pflaster auf der Stirn. War er nicht die Tage in den Nachrichten, weil er einer Frau und ihrem Sohn in einem Verkehrsunfall zur Hilfe gekommen war? Ich frage mich, wie er das gemacht hat in seinem desolaten Zustand.

Die Wohnung ist ein einziges Chaos. Der Fußboden ist übersät von leeren oder halbleeren Flaschen, von Karten mit Flugrouten, Zeitungsausschnitten und anderen Papierstapeln. "Ich kann keinen Besuch gebrauchen", murmelt er und kaut auf dem Knöchel seines rechten Mittelfingers herum. "Ich brauche Hurley und Sayid, Sawyer und Kate und Jin und Sun und John Locke. Wir müssen alle in ein Flugzeug, und dieser Lapidus muss es fliegen."

Er reißt ein Poster mit einer Palmeninsel und einem langen, weißen Sandstrand von der Wand. "Wir müssen zurück, verstehen Sie?" Er wedelt mit dem Poster oder dessen Fetzen vor meinem Gesicht herum. "James und Jin sollten nicht einmal hier sein. Sie gehörten ursprünglich nicht zu den Oceanic 6. Das ist alles falsch. Alles vollkommen falsch!" Er sitzt jetzt in einem Sessel, die Arme vor der Brust gekreuzt und krallt sich mit den Fingern der einen Hand in den jeweils gegenüberliegenden Unterarm. Dazu wippt er schnell und hektisch vor und zurück.

"Ich muss Kate sagen, dass Aaron nicht ihr Sohn ist. Dass wir einen Fehler gemacht haben. Dass wir niemals hätten gehen dürfen! Aber sie will nicht mit mir reden. Sie legt immer wieder auf. Aber ich habe es satt zu lügen!" Er springt auf und tritt einige Flaschen und Papiere quer durch den Raum. "Wie soll ich die Welt retten, wenn ich nicht zurück kann? Wie soll ich mich freiwillig für eine Aufgabe entscheiden, wenn ich nicht auf der Insel bin und Jacob sie mir nicht anbieten kann?"

Ich schüttele nur verwirrt den Kopf. Selbst, wenn ich es wollte, ich könnte ihm seine Fragen nicht beantworten, weil ich nicht die leiseste Ahnung habe, wovon er überhaupt spricht. War es Hurley, also Hugo Reyes, der ihn einen schrägen Vogel genannt hat? Dieser Typ ist mehr als schräg, vielleicht ein Fall für die Klapsmühle. Langsam und unauffällig bewege ich mich in Richtung Tür, versuche dabei aber verständnisvoll und freundlich zu lächeln.

"Ich will wieder abstürzen, verstehen Sie? Ich bete, dass ich wieder zurück kann. Wir hätten niemals gehen dürfen!" Ich nicke und lächele weiter mein falsches Haifischgrinsen und atme erst wieder, als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt. Was war das nun wieder?

Von drinnen höre ich Jack Shepard schreien: "Wir müssen wieder zurück, Kate! Wir müssen wieder zurück!"

Wednesday, December 22, 2010

Apartment 22

Dreizehnter Stock rechts

"Ach, Bromford, es ist so schön, endlich wieder einmal die Sprache meiner Mutter hören und sprechen zu können. Ich glaube, das habe ich schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr getan."
Aber welche Sprache sprechen wir? Welche Sprache vermisst sie seit fünfundsechzig Jahren? Dies hier ist die Ferne. Dies hier ist die Fremde. Ein Land, in dem für gewöhnlich nicht unsere gemeinsame Muttersprache gesprochen wird, nicht unser Vaterland. Hatten wir die Diskussion über Vaterland und Muttersprache schon einmal? Ist das in der Sprache, die wir sprechen müssen, wenn man uns in Bromford verstehen will, auch so? Wieder einmal weiß ich es nicht.

Ich kenne die Bewohnerin von Apartment 22 aus dem dreizehnten Stock. Und damit ist auch bewiesen, dass es in diesem Haus einen dreizehnten Stock gibt, keinen künstlichen Stock vierzehn nach dem zwölften und auch keinen Stock zwölf a) aus unnötigem Aberglauben. Die alte Dame sagt, es macht ihr nichts aus. Sie sei nie abergläubisch, aber auch nie besonders gläubig gewesen. Ich kenne sie, auch wenn sie nicht zu den "Buggles" gehört und ich nie in ihrem Übungskeller war. Und sie heißt nicht Roswitha Mauer, wie ich anfangs irrtümlich dachte.

Ihr Name ist Rachel Goldzweig. Sie ist zweiundachtzig Jahre alt und kam 1945 gleich nach der Bombardierung ihrer Heimatstadt Dresden durch britische und amerikanische Kampfflugzeuge in dieses Land. "Es ist nicht schön, alt zu sein und immer älter zu werden, Bromford", seufzt sie und reibt sich die schmerzenden Gelenke. "An manchen Tagen kann ich mich nicht erinnern, was ich zum Frühstück hatte, aber dafür stürzen die Erinnerungen als längst vergangenen Zeiten über mir zusammen, als hätte ich die Dinge erst gestern erlebt.

Es war im Februar 1945 als die Flugzeuge kamen und alles in Schutt und Asche gelegt haben. Ich war gerade 17 Jahre alt geworden. Und das sollten doch unsere Befreier sein, aber sie überzogen alles mit Feuer und Tod. Wir waren da schon seit vier Jahren in unserem Versteck im Hinterhaus. Meine Eltern hatten sie schon in der Nacht vom 09. auf den 10. November 1938 verhaftet. 'Reichskristallnacht' haben sie es genannt wegen dem Glitzern der Scherben der Scheiben der jüdischen Geschäfte und Häuser und Synagogen. Ich war gerade bei Bekannten zu Besuch und habe Mama und Papa nie wieder gesehen. Aber ich habe auch nie weiter nachgeforscht, was aus ihnen geworden ist.

Salomo Goldzweig – ich nannte ihn immer Shlomo – mein späterer Mann und seine Familie nahmen mich bei sich auf, bevor wir dann alle zusammen ins Versteck gingen. So ist es uns wenigstens erspart geblieben, Judensterne auf der Kleidung tragen oder unsere Vornamen in "Sarah" oder "Israel" ändern zu müssen. Und natürlich sind uns auch die Lager und die Duschen erspart geblieben. Die Schraders haben uns über vier Jahre versteckt und mit Lebensmitteln versorgt. Es war nicht leicht, das kannst Du mir glauben."

Sie seufzt und zittert, als ein Atemzug rasselnd ihre Lungen füllt. "Und dann kamen die Nächte vom 13. bis 15. Februar 1945 und ein Bombenteppich nach dem anderen. Das Wohnhaus wurde getroffen. Die Schraders verschüttet. Fast hätten uns die Befreier für immer eingeschlossen in unserem Versteck im Hinterhaus. Shlomos Vater hatte schon in der ersten Nacht einen Herzanfall und ist gestorben. Aber wir, Shlomo, seine Mutter Judith und ich haben überlebt. Und wir sind geflohen. Frag' mich nicht wie, aber irgendwie ist es uns gelungen, Deutschland zu verlassen und über Frankreich zu flüchten.

Konnten wir ahnen, dass kein Vierteljahr später dieser schreckliche Krieg und diese Terrorherrschaft vorbei sein würden? Ich weiß es nicht. Wären wir nach dem Mai 1945 in dem Land unserer Geburt geblieben? Ich denke nicht.

Shlomos Familie hatte etwas Geld auf ausländischen Konten und davon haben wir uns noch im Winter '45 diese Wohnung hier gekauft. Wusstest Du, dass dieses Haus mal das höchste der ganzen Stadt war? Und schon im Februar '46 waren Shlomo und ich verheiratet. Ich war und bin seitdem Rachel Goldzweig. Seine Mutter verließ uns keine drei Jahre später für immer. Wir hatten nie Kinder. Ich weiß nicht warum. Es hat einfach nie geklappt. Und vor zehn Jahren hat mich dann auch mein Shlomo verlassen. Er hat das neue Jahrtausend nicht mehr erleben dürfen."

Ihre Stimme schwankt und zittert. "Und seitdem habe ich nur sehr wenig Deutsch gesprochen. Das Land habe ich seit fünfundsechzig Jahren nicht mehr betreten. Keinen Kontakt mehr. Und manchmal frage ich mich, ob ich wirklich jemals dort war. Oder ob all diese Erinnerungen nut böse Streiche sind, die mir mein verwirrter Geist spielt. Man sagt, man ist in einem neuen Land angekommen, hat es als neue Heimat angenommen, wenn man beginnt, in der Sprache dieses Landes zu träumen. Ich kann mich nicht an meine Träume erinnern, Bromford. Ich weiß nicht, welche Sprache ich in ihnen spreche. Ist das schlimm?"

Eine Träne läuft quälend langsam über ihre faltigen Wangen. Jetzt zittern ihre zusammengepressten Lippen. Ich halte ihre Hände, und wir sitzen lange in der aufsteigenden Dunkelheit und schauen in das leichte Flackern eines siebenarmigen Kerzenleuchters.

Tuesday, December 21, 2010

Apartment 21

Dreizehnter Stock links

Über meine Begegnung mit dem Bewohner von Apartment 21 und seine Damenbekanntschaft berichte ich in Kürze. Versprochen...

*
*
*

Er möchte nicht, dass ich seinen Namen hier veröffentliche. Also nennen wir ihn kurz und knapp Harrod W. Er ist in seinen Vierzigern und Erbe einer weltweiten Kette von Nobelkaufhäusern, die sein Vater nach dem Ende des letzten Weltkrieges aufgebaut hat. Er ist Teil einer Promi- und Jet-Set-Welt, bekannt aus diversen Hochglanzmagazinen, mit Kontakten und verflossenen Liebschaften in der High-Society bis tief hinein ins Königshaus.

Stellt Euch meine Verblüffung vor, als ausgerechnet dieser weltbekannte Playboy mir die Tür zu Apartment 21 öffnet. Gibt es in diesem Haus denn nur Lottogewinner und Millionenerben? Auch wenn Sir Nicolas de Noelle aus Apartment 6 der Meinung ist, dass diese Wohngegend langsam aber sicher den Bach runter geht, so muss doch etwas dran sein, wenn jemand vom Kaliber eines Harrod W. hier wohnt, denn wie wir bereits erfahren haben, sind alle Wohnungen in der Whitaker Lane 666 Eigentum ihrer Besitzer. Mieter gibt es hier nicht.

Aber was sagt das über mich aus? Bin ich Eigentümer des Hauses, des Penthouses auf dem Dach? Wie kann ich mir das nur leisten? Woher kommt das Geld? Habe ich einen Job? Ich verlasse jeden Morgen das Haus und komme gegen Abend wieder hierher zurück. Deutet das auf eine regelmäßige und lukrative Arbeit hin?

Harrod W. raucht eine Zigarre und hält ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in der Hand. Was ist es? Whisky? Whiskey? Oder Scotch? Und zu welcher Kategorie gehört Scotch? Ich denke, Scotch ist ein Whisky, denn wie bei den amerikanischen Sorten schreibt sich dieses alkoholische Getränk "Whisky", wenn es aus Schottland kommt und "Whiskey", wenn es in Irland oder Kanada hergestellt wurde. Gibt es noch andere Länder, in denen dieser Alkohol hergestellt wird? Ich weiß es nicht und verstehe nicht, was mich zu diesen Überlegungen treibt.

"Ich weiß nicht, was mich ausgerechnet hierher verschlagen hat!" sagt Harrod W. und schwenkt die Flüssigkeit in seinem Glas. Ist Cognac vielleicht französischer Whisky oder Whiskey? "Diese Wohnung ist selbstverständlich gar nichts im Vergleich zu meiner Villa in Marbella! Ja, selbst meine Skihütte in den Schweizer Alpen ist größer als dieses Loch hier!" Ja, was macht er hier, wenn ihm das Apartment nicht gefällt und viel zu klein ist?

In diesem Moment öffnet sich die Badezimmertür, und mir fällt auf, dass das Rauschen, das ich gehört habe, seit Harrod mich hereingelassen hat, verstummt ist und wohl die Dusche gewesen sein muss. In den Wohnbereich tritt eine halbnackte Frau, gewickelt in ein knappes Handtuch, während sie sich mit einem zweiten die mausgrauen Haare trocken rubbelt. "Wann bist Du wieder in der Stadt, Süßer?" fragt sie und wirft ihr noch immer feuchtes Haar zurück in den Nacken. Sie scheint keine Ahnung zu haben, dass ich da bin.

Und kaum hat sie das Handtuch vom Gesicht genommen, erkenne ich sie. Es ist Samantha Somerhalder, die strenge und korrekte Grundschullehrerin aus dem vierten Stock, nur wirkt sie in diesem Moment weniger korrekt und streng, vielmehr mehr als peinlich berührt. Ob wegen ihrer Halbnacktheit oder aus einem anderen Grund vermag ich nicht zu sagen. Sie stammelt einige unverständliche Worte und verschwindet wieder im Badezimmer.

Ist das der Grund, weshalb Harrod, der notorische Globetrotter und Jet-Setter, in dieser Gegend Bromfords eine Wohnung besitzt? Um eine Affäre mit einer gleichaltrigen Lehrerin zu verheimlichen? Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Sie ist nicht verheiratet, soweit ich weiß, und auch er ist nicht gebunden. Das hätte ich sonst sicher schon aus den berüchtigten Zeitungen beim Friseur oder Zahnarzt erfahren. Warum also scheint es ihr so peinlich zu sein, dass ich sie hier zusammen sehe?

Harrod prostet und zwinkert mir zu. "Manchmal sind die Dinge genau das, was sie zu sein scheinen. Und sie ist es, die will, dass unser Verhältnis geheim bleibt!" – "Ganz richtig!" verkündet Samantha von der Badezimmertür aus. Sie trägt jetzt wieder eines ihrer schlichten und unauffälligen Kostüme und eine steife Hochsteckfrisur, was sie schlagartig um Jahre älter macht. Sie schreitet an mir und Harrod vorbei in Richtung Wohnungstür.

Er springt auf und hält sie kurz fest. Als er sie zum Abschied küssen will und einen Satz beginnt – "Ich liebe…" – legt sie ihm einen drohenden Zeigefinger auf die Lippen. "Du kennst die Abmachung!" sagt sie und schüttelt ohne Gesichtsausdruck den Kopf.

In der Tür dreht sie sich noch einmal zu mir um. "Mister Bibble!" sagt sie. "Die Einladung zum Krippenspiel steht!" Dann ist sie verschwunden. "Verstehe einer die Frauen!" spricht Harrod W. ein uraltes Klischee gelassen aus und schenkt sich noch mehr Whisky, Whiskey oder Cognac nach.

Monday, December 20, 2010

Apartment 20

Zwölfter Stock rechts

Unter ständigen Verbeugungen und einem Dauerlächeln bitten sie mich herein. Dabei reden sie pausenlos auf mich ein, aber ich verstehe kein Wort, denn sie sprechen eine asiatische Sprache, die ich beim besten Willen nicht beherrsche.

Der Mann deutet auf sich und sagt: "Jin-Soo Kwon! Jin-Soo Kwon!" Ich glaube zu begreifen, dass das sein Name ist, haue mir mit der flachen Hand vor die Brust und sage: "Bromford Bibble! Bromford Bibble!" Der schwarzhaarige Mann mit den dunklen, mandelförmigen Augen freut sich und nickt eifrig, dann zeigt er auf seine Frau mit den Worten: "Sun-Hwa Kwon! Sun-Hwa Kwon!"

Seine Frau lächelt bezaubernd und reicht mir die Hand, womit sie sich einen tadelnden Blick ihres Mannes einhandelt. Mit einigen schnellen Sätzen in ihrer Sprache fährt er sie an, woraufhin sie ihn erschrocken aber auch ein wenig rebellisch anschaut und dabei den obersten Knopf ihrer Bluse zuknöpft.

Der Mann zeigt wieder auf sich und sagt: "Jin!" Dann deutet er in meine Richtung und meint: "Bromford!" Das ganze wiederholt er noch einige Male: "Jin! Bromford! Jin! Bromford!" Jin ist demnach sein Vorname. Ist es immer so, wenn man versucht, sich zu verständigen, aber keine gemeinsame Sprache kennt?

Aber die kleine Familie ist noch nicht komplett, hat noch ein Mitglied. Eine entzückende kleine Tochter, die Jin mir als "Ji Yeon" vorstellt. Hätten sie mich verstanden, hätte ich sie sicher gefragt, was dieser wohlklingende Name in unserer Sprache bedeutet.

"Korean!" sagt Jin noch, und ich glaube, diesmal spricht er so etwas wie gebrochenes Englisch. Also kommen sie aus Korea und die Sprache, die sie sprechen ist Koreanisch. Und ich denke, die Frage, ob sie aus Nord- oder Südkorea kommen, erübrigt sich auch. Jin gibt mir seine Visitenkarte. Neben asiatischen Schriftzeichen stehen dort in englischer Sprache und Schrift Jins Name und der Name der Firma, für die er arbeitet "Paik Heavy Industries". Von dieser Firma habe ich noch nie etwas gehört.

Sie laden mich ein zu Fisch und einer Beilage, die wie Algen aussieht. Dazu gibt es einen würzigen Reiswein. Sie lachen und reden viel, aber ich weiß die meiste Zeit nicht, ob mit mir oder über mich. Sie sind wirklich herzliche Menschen, auch wenn man sich nur schwer mit ihnen verständigen kann. Vielleicht ist das aber ein Grund, endlich einmal eine asiatische Fremdsprache zu lernen?

Zum Abschied sagt Jin immer wieder etwas, das wie "Meli keuliseumaseu! Meli keuliseumaseu! Meli keuliseumaseu!" klingt, und Ji Yeon malt mir diese Schriftzeichen auf ein Blatt Papier:

메리 크리스마스!

Gerade als ich in den Fahrstuhl steigen will, kommt Sun – das ist der Name der Frau – mir nach und sagt zu meiner nicht gerade kleinen Verblüffung: "Ich spreche Deine Sprache, aber sag' meinem Mann nichts davon. Es soll eine Überraschung für ihn sein! Frohe Weihnachten! - Meli keuliseumaseu!"



Sunday, December 19, 2010

Apartment 19

Zwölfter Stock links

"Hallo, mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit über einem Jahr Bewohner des Penthouses auf dem Dach dieses Gebäudes. Ich wollte mich nun endlich einmal offiziell bei meinen Nachbarn vorstellen!"

"Hallo, mein Name ist Eleanor Rigby, und das da ist Father McKenzie!" Die Frau mit den tiefrot gefärbten Haaren winkt einen etwas älteren Mann zu sich heran und kichert dabei ohne Hemmungen. "Darling, Du sollst doch nicht…!" beginnt der Mann eine Strafpredigt und bricht dann ebenfalls in albernes und sinnloses Kichern aus. Und während ich mich noch frage, woher ich die Namen "Eleanor Rigby und "Father McKenzie" kenne, fangen die beiden doch tatsächlich an, laut und falsch zu singen…

Eleanor Rigby, picks up the rice
In the church where a wedding has been
Lives in a dream

Waits at the window, wearing the face
That she keeps in a jar by the door
Who is it for?

All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?

Das seltsame Paar hakt sich beidseitig bei mir unter, und zerrt mich laut lachend in seine Wohnung. Unter einem gewaltigen, elektrischen Plastikgebilde, das einen Adventskranz darstellen soll und in schrillen Farben vier zu Kerzen stilisierte Zahlen beleuchtet, über dem Türbogen zum Wohnzimmer hindurch, geht es in eine Sitzecke, die einen kleinen Tisch umringt, der über und über mit Gebäck und Schokolade gedeckt ist. Selbst einen komplett geschmückten, künstlichen Weihnachtsbaum gibt es hier schon. Die Frau, die sich Eleanor Rigby genannt hat, bemerkt meinen fragenden Blick und winkt dann ab.

"Der ist noch vom letzten Jahr übrig geblieben!" lacht sie auf. "Aber spätestens am Montag besorgen wir uns einen neuen. Einen zweiten." Father McKenzie nickt eifrig dazu und schiebt sich noch ein Lebkuchenherz in den Mund. Sie sitzen jetzt nebeneinander auf dem längeren Teil des Sofas. Sie sitzen einander zugewandt, halten sich an den Händen fest und wippen mit den Oberkörpern vor und zurück, so weit wie es ihre Arme zulassen. Dazu singen sie laut und voller Hingabe weiter…

Father McKenzie, writing the words
Of a sermon that no one will hear
No one comes near

Look at him working, darning his socks
In the night when there's nobody there
What does he care?

All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?

Ah, look at all the lonely people
Ah, look at all the lonely people

"Hach!" Eleanor seufzt schließlich leicht außer Atem auf und versucht, ihren Lachanfall zu beenden. "Harry", sagt sie nun zu "Father McKenzie", "wir müssen damit aufhören. Ich glaube, wir verwirren unseren jungen Gast!" Harry, und ich weiß noch immer nicht, ob er wirklich "Father" McKenzie, also ein Geistlicher ist, nickt und wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

"Mr. Bibble, mein Name ist Harry McKenzie!" Er ist aufgestanden und hat mir über den Tisch hinweg die Hand geschüttelt. "Und das ist meine Ehefrau Sally, geborene Rigby." Eleanor oder Sally nickt mir freundlich zu und flüstert: "Hallo!" – "Und 'Eleanor Rigby' ist unser Lied." Harry sitzt wieder und isst einen weiteren Keks.

"Und so wie in dem Lied haben wir uns auch kennengelernt, jedenfalls fast!" Sally schenkt mir eine Tasse Tee ein. "Harry war damals Laienprediger in der Bromford Kathedrale, wo ich als Küsterin arbeite. Ich sammele tatsächlich den Reis und auch die Blumen in der Kirche auf, wenn eine Hochzeit vorbei ist. Und ich tue diese Reste als Erinnerung in große Gläser mit Schraubverschluss. Wenn das Brautpaar das Glas haben will, schenke ich es ihnen. Wenn nicht, dann landet es in meiner Sammlung. Wollen Sie meine Sammlung sehen?"

Sie ist aufgesprungen und hat einen großen Schrank neben der Tür geöffnet. Auf mindestens zwanzig Regalböden stehen dort hunderte Einmachgläser mit drehbarem Deckel voller Staub, verwelkter Blütenblätter und Stiele und angegrautem Reis. Jedes Glas ist mit einem kunstvoll beschriebenen Etikett beklebt, auf dem in roter Tinte der Name des Brautpaares und das jeweilige Hochzeitsdatum stehen. "Alle großen Hochzeiten in der Bromford Kathedrale der letzten fünfzehn Jahre habe ich hier versammelt!" verkündet Sally stolz.

"Und ich habe bei einigen von den Trauungen kleine Ansprachen verlesen", sagt Harry nicht minder stolz. Schon sitzt Sally wieder neben ihm und plaudert weiter: "Er ist natürlich kein Geistlicher, kein 'Father'. Er ist nicht einmal Vater geworden, weil der Herrgott uns keine Kinder schenken konnte. Aber bei einer dieser Hochzeiten haben wir uns kennengelernt. Als wir uns dann vorgestellt hatten – Ribgy und McKenzie – und genau in dem Moment im Radio die Beatles anfingen zu singen, da war uns klar, das mit uns hält für die Ewigkeit!"

Jetzt war Harry aufgesprungen und legte an einem Plattenspieler den Tonarm zurück auf eine große, schwarze Schallplatte. Bald war die Wohnung erfüllt von den Klängen des Liedes "Eleanor Riby" von den Beatles. Und Harry und Sally sangen mit geschlossenen Augen mit. Und mir wurde nun endlich klar, woher ich die Namen kannte, die die beiden mir zu Beginn meines Besuchs genannt hatten.

Und beim letzten Vers muss ich mich ernsthaft fragen, wie die beiden dieses traurige Lied zu "ihrem" Lied haben machen können. Haben sie es nie bis zum Ende gehört oder nie auf den Text geachtet? Tatsächlich scheinen sie sich jetzt, noch immer mit geschlossenen Augen, gegenseitig die Ohren zuzuhalten, als Paul McCartney singt…

Eleanor Rigby, died in the church
And was buried along with her name
Nobody came

Father McKenzie, wiping the dirt
From his hands as he walks from the grave
No one was saved

All the lonely people (Ah, look at all the lonely people)
Where do they all come from?
All the lonely people (Ah, look at all the lonely people)
Where do they all belong?

Saturday, December 18, 2010

Apartment 18

Elfter Stock rechts

Die Begegnung heute ist das Seltsamste, das ich seit langer, langer Zeit erlebe, und sie wird mir lange, lange Zeit in Erinnerung bleiben und mich beschäftigen. Außerdem lässt sie mich an meinem Verstand zweifeln und in mir die Frage aufkommen, ob es Bromford und das Haus in der Whitaker Lane 666 wirklich gibt.

Sein Name ist Thore Christian, und obwohl die Namen in genau dieser Reihenfolge auf dem Türschild stehen, frage ich mich, welches der Vor- und welches der Nachname sein mag. Und der Name bringt eine Seite in mir zum Klingen, beschwört Erinnerungen herauf. Woher kenne ich diesen Namen? Was daran ist mir so vertraut?

Als er auf mein Klingeln hin die Tür öffnet, erstarre ich zur Salzsäule. Zuerst glaube ich in einen Spiegel an der Wand des Flures von Apartment 18 zu blicken. Vor mir, im Inneren und Halbdunkel dieser Wohnung stehe … ich! Ich trage dieselbe Kleidung, Jeans und Sweatshirt. Gesicht, Haare, Augen haben dieselbe Farbe. Die Haare sind, wie bei mir, eine Spur zu lang und könnten mal wieder einen Friseur-Besuch vertragen. Und wir beide – ich und ich – sagen kein Wort.

Doch dieses Spiegelbild bin nicht ich, ist ein von mir unabhängig lebendes und handelndes Wesen. Thore Christian muss diese unglaubliche Ähnlichkeit genau wie ich bemerkt haben. Er scheint genauso erschüttert über diese verstörende und beunruhigende Begegnung zu sein wie ich. Hält sich noch immer die Sage, das Sprichwort, dass jeder Mensch irgendwo auf diesem Planeten, auf dieser Welt seinen Doppelgänger hat, seinen, manchmal nur charakterlichen Zwilling? Aber in der gleichen Stadt? Verdammt noch mal, im gleichen Haus? Und wer weiß, wie lange wir hier schon unter einem Dach wohnen, ohne dass wir uns jemals begegnet sind!? Schon seit meinem Einzug?

Thore oder Christian, also Thore Christian, wendet den Blick von mir ab. Er schüttelt ungläubig den Kopf und hebt abwehrend und abwinkend die Hände. Seine Lippen klappen stumm und wortlos auf und zu, dann schließt er hastig die Wohnungstür direkt vor meiner Nase. Ich kann deutlich hören, wie diverse Schlösser abgesperrt, ein Riegel und schließlich noch eine Kette vorgelegt werden.

Mit klopfendem Herzen und vor Verwirrung schmerzendem Kopf trotte ich zurück in Richtung Fahrstuhl. Barbara und Ringo kommen, wie immer händchenhaltend und schmusend, aus Apartment 17, aber ich beachte sie und ihren Gruß kaum. Stattdessen lausche ich der Stimme des Blogkommenterroristen in meinem Kopf, die zwitschernd und zischend raunt und flüstert: "Vielleicht ist das der Frank, Bromford Bibble, den niemand Bromford Bibble nennen sollte! Es wird mal wieder Zeit für Deine Tabletten, mein Freund! Erst recht und gerade an den Feiertagen!"

Als ich einige Stunden später noch einmal an der Tür von Apartment 18 klingeln oder klopfen will, um näheres über dessen Bewohner herauszufinden und zu erfahren, ist das Namensschild "Thore Christian" abgeschraubt und stattdessen verkündet eine Botschaft mit Filzstift auf einfacher Pappe geschrieben: "Apartment zu verkaufen".

Friday, December 17, 2010

Apartment 17

Elfter Stock links

Mit dem Schlagzeug sind die "Buggles" nun komplett. Ringo Lennon heißt der Trommler. John, Paul, George und Ringo. "The Imaginary Four!" Klavier, Posaune, Gitarre und Schlagzeug. Singen tun sie alle vier, vierstimmig und harmonisch. Schade nur, dass sie nie aus ihrem Übungskeller hier im Haus heraus gekommen sind.

Ringo hat für sein Alter noch erstaunlich dichtes und schwarzes Haar. Dazu trägt er einen neckisch gebundenen, grauen Kaschmirschal und einen säuberlich gestutzten Dreitagebart. Sind die Gläser seiner runden Brille wirklich rosa? Ich kann es nicht erkennen, dafür aber den kleinen, goldenen Ohrring-Knopf in seinem linken Ohrläppchen.

Und er bewohnt sein Apartment nicht allein. Immer an seiner Seite, ständig um ihn herum, seine über alles geliebte und hoch verehrte und geschätzte Ehefrau Barbara. Verheiratet sind sie seit drei Jahren, aber zusammen seit mehr als dreißig. Sie kennen sich seit ihrer frühesten Kindheit, sind zusammen aufgewachsen, haben sich nie aus den Augen verloren. Sie verstehen und ergänzen sich. Kaum vergeht ein Augenblick, in dem sie sich nicht zärtlich berühren, wenn sie zusammen in einem Raum sind. Und sie ergänzen und beenden gegenseitig ihre Sätze, was ein Gespräch mit ihnen sehr anstrengend macht. Sie lachen an den unmöglichsten Stellen über Privatwitze, die nur sie beide verstehen.

Lange halte ich diese Harmonie, diesen Gleichklang, dieses Doppelwesen nicht aus. Nach einigen Nettig- und Höflichkeiten ziehe ich mich dezent zurück. Aber die beiden scheint es nicht weiter zu stören, denn sie sind sich selbst genug.

Thursday, December 16, 2010

Apartment 16

Zehnter Stock rechts

Die Vorweihnachtszeit hat nun auch das Haus in der Whitaker Lane 666 fest im Griff. Jemand – Muss ich mich fragen wer? – hat eine Girlande aus künstlichen, dunkelgrünen Stechpalmen und roten Beeren in den Fahrstuhl gehängt. Sie rahmt ein großes Schild an einer Wand des Fahrstuhls ein und läuft dann einmal ringsum die Kabine. "Merry X-Mas And A Happy New Year" steht auf dem Schild.

Als ich an der Tür von Apartment 16 klingele, summe ich es doch tatsächlich vor mich hin. "We Wish You A Merry Christmas, We Wish You A Merry Christmas, We Wish You A Merry Christmas And A Happy New Year…"

Sein Name ist Sayid Jarrah. Er bittet mich herein und stellt mich seiner Verlobten Noor Abed Jazeem vor. Sie bietet mir Tee an und verschwindet dann in der Küche, um ihn zuzubereiten. Sayid und ich sitzen in seinem Arbeitszimmer mit Blick auf die Ostseite Bromfords und die beiden, inzwischen höchsten Gebäude der Stadt. Die Luft draußen ist klar und kalt, und es blinken wieder viele Lichter in der Dunkelheit.

"Ja, ich bin Iraker", sagt Jarrah nach einer Weile mit einem kaum noch hörbaren, morgenländischen Akzent. "Ja, ich war Soldat in der irakischen Republikanischen Garde. Und ja, ich habe während und nach dem Zweiten Golfkrieg mit den Amerikanern kollaboriert." Ich habe ihm keine Fragen gestellt und ganz bestimmt nicht von ihm erwartet, dass er mir sein ganzes Leben beichtet.

Noor, die er liebevoll "Nadia" nennt, bringt uns den aromatischen Minztee, gießt ihn in kleine, silberne Teetassen und zieht sich dann wortlos lächelnd zurück. Sayid sieht ihr lange und versonnen nach. Er scheint sehr verliebt in ihre kaffeebraune Haut, ihre dunkelbraunen Augen und ihr offenes, schwarzes Haar.

"Ja, wir sind Mohammedaner, wir sind Muslime", fährt er fort und nimmt dabei einen kleinen Schluck Tee. "Wir sind keine Fanatiker und befolgen sicher nicht immer alle Regeln und Gesetze aus dem Koran. Gut, wir glauben nicht an Euren Jesus Christus. Und wir glauben bestimmt nicht, dass er Allahs Sohn ist, höchstens ein weiterer seiner Propheten, von denen Mohammed der bedeutendste ist. Aber ist nicht der Gott aller monotheistischen Weltreligionen der gleiche? Ist es schlimm, wenn ich das sage? Ist es ketzerisch?"

Er reißt seine dunklen Augen auf und sieht mich fragend an, aber ich kann nur mit den Schultern zucken, denn ich weiß nicht, worauf er hinaus will. Und für einen religiösen Disput fühle ich mich gerade nicht gläubig genug und zu schlecht vorbereitet. "Ein anderer Glaube", fährt er fort, "eine andere Hautfarbe machen uns doch noch nicht zu fanatischen Terroristen und Selbstmordattentätern. Wir sind doch nur in Euer Land gekommen, um endlich in Ruhe und Frieden leben zu können, egal, welcher Schmerz und welche Verbrechen in der Vergangenheit waren."

Seine Teetasse steht inzwischen auf der Fensterbank, und er hat mich am Kragen gepackt. Er schüttelt mich durch. Je tiefer ich ihm in die Augen schaue, desto deutlicher sehe ich, dass ein wirklich gefährlicher Mann in seinem Inneren steckt. "Es ist gut, Liebling!" Nadia steht neben ihm und legt ihm eine Hand beruhigend auf den Oberarm. "Niemand hier klagt Dich an. Niemand will Dir etwas Böses."

Sayid Jarrah nickt, lässt mich los und nimmt seine Teetasse wieder auf. Er starrt düster hinaus auf die beiden hohen Bürotürme vor dem Nachthimmel. Nadia nickt mir zu und gibt mir ein Zeichen, sie sei gleich nebenan und bereit, ihn wieder zu beruhigen, sollte er noch einmal die Beherrschung verlieren.

Den Rest des Abends verliert er sich in vagen Erzählungen über seine Vergangenheit, wie er einmal ein Huhn geschlachtet hätte, weil sein Bruder zu gutmütig dazu gewesen sei. Wie er für den Irak gekämpft hätte, und wie die Amerikaner seine Verhörmethoden genutzt hätten, weil er Englisch sprach. Wie er für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet hätte und wie er auf der Suche nach seiner Nadia um den ganzen Erdball geflogen sei.

Zum Abschied drückt er mich kurz an sich. "Bromford Bibble", verkündet er feierlich, "Du bist ein wahrer Freund!" Nadia winkt mir hinter seinem Rücken aus dem hinteren Teil der Wohnung zu. Er bemerkt es und lächelt sie strahlend an. "Sie ist das Beste, das mir je passiert ist", flüstert er mir verschwörerisch zu. Dann trübt sich sein Blick wieder ein. "Aber warum habe ich dann die ganze Zeit das Gefühl, dass sie nicht meine Seelenverwandte ist? Dass es irgendwo da draußen eine andere Seelenpartnerin für mich gibt?" Wieder diese fragenden, beinahe verzweifelten Blicke. "Wer es glaubt, wird selig? Und wer es nicht glaubt, kommt auch in den Himmel? Kennst Du jemanden namens Shannon?"

Und das sind alles Fragen, die ich ihm nicht beantworten kann, von denen ich nicht einmal weiß, ob er wirklich von mir darauf eine Antwort erwartet.

Wednesday, December 15, 2010

Apartment 15

Zehnter Stock links

Seine Brille sieht irgendwie zusammengesetzt und geflickt aus, so als hätte man zwei Sehhilfen in der Mitte auseinandergenommen und dann zwei unterschiedliche Hälften miteinander verschweißt oder geklebt. Das linke Glas ist größer als das rechte und die Plastikbügel und das Gestell haben verschiedene Farben und Muster.

Als er mir die Tür öffnet, hält er eine zerfledderte Taschenbuchausgabe von Mark Twains "Tom Sawyer" in den Händen. "Lesen Sie?" fragt er mich unvermittelt und hält mir das Buch unter die Nase. "Ist eines meiner Lieblingsbücher", sagt er dann, "aber ich lese eigentlich erst seit einem längeren Aufenthalt auf einer verlassenen Insel."

Er bittet mich herein. Bevor er in der Küche verschwindet, um uns Kaffee zu machen, legt er den "Sawyer" zu einem ganzen Stapel anderer Bücher. Sie sehen alle nicht neu aus. Manchen fehlt der ganze äußere Einband. Einige sehen aufgequollen aus, als hätten sie längere Zeit im Wasser gelegen. Lediglich bei zweien der Bücher kann ich Titel und Autor erkennen: "Unten am Fluss - Watership Down" von Richard Adams mit dem Bild eines Kaninchens auf dem Umschlag und "Of Mice And Men" von John Steinbeck.

Sein Name ist James Ford, und bis auf die eigenartige Lesebrille Marke Eigenbau sieht nichts an ihm wie eine Leseratte aus. Er hat einen großen, durchtrainierten Körper unter seinen Jeans und Schlabbershirts. Seine Haare sind lang und von der Sonne gebleicht. Er ist braungebrannt und stoppelig unrasiert. Er ist garantiert kein Akademiker oder Bürotyp. Aber da ist ein Blick in seinen hellen Augen, lauernd und immer bereit, jede sich ihm bietende Gelegenheit zu ergreifen, die mich bei ihm auf unerklärliche Weise an einen Vertreter denken lässt, der einem alles, aber auch wirklich alles verkaufen könnte.

Er kommt mit zwei dampfenden Tassen Kaffee zurück. Er erzählt von einer Flugreise mit merkwürdigen Begegnungen und Menschen, von der er beinahe nicht zurückgekommen wäre. Und er erzählt davon, dass er nicht genau sagen könne, wie lange diese Reise gedauert hätte.

Dann erzählt er von seinen irakischen Nachbarn aus Apartment 16 und davon, dass sie ihm verdammt bekannt vorkommen. Seien bestimmt Kriegsverbrecher oder islamistische Terroristen die beiden oder beides.

Dann wechselt er abrupt das Thema. "Von Menschen und Mäusen" von Steinbeck sei sein Lieblingsbuch, sagt er. Besonders gefallen habe ihm die Schlussszene, in der George seinen geistig zurückgebliebenen und überstarken Kumpel Lennie erschießt, um ihm weitere Qualen zu ersparen. Er könnte verstehen und nachvollziehen, warum George das getan habe, sagt er.

"Wusstest Du eigentlich, dass Mark Twain in Wirklichkeit Samuel Langhorne Clemens hieß?" fragt er dann plötzlich und setzt die zusammengesetzte Brille wieder auf. "Es ist schon komisch mit diesen Pseudonymen. Manchmal merkt man sie sich eher als die wirklichen Namen, und sie halten besser und länger. Wenn man bedenkt, dass ich bis vor meiner Reise nur Briefe gelesen habe, und zwar meistens einen ganz bestimmten, den ich seit meiner Kindheit mit mir herumtrage, und das immer und immer wieder und wieder."

Dann verabschiedet er mich plötzlich, wiederum etwas überraschend. Ich sei immer gern als Besuch willkommen, meint er noch, wenn ich vorher kurz durchrufen würde. Dann steckt er mir noch seine Visitenkarte zu, mit dem Vorschlag, mir doch einmal Gedanken über mein Vermögen zu machen und ihn anzurufen, sollte ich etwas Geld gewinnbringend anlegen wollen.

Zuhause in meinem Penthouse schaue ich mir die Karte genauer an. Sie ist schlicht gehalten. Adresse und Telefonnummer in schwarzer, schnörkelloser Schrift auf weißem Grund am oberen Rand, dann mittig in größerer Schrift sein Name "James Ford". Darunter zentriert steht "Anlageberater". Und ganz am unteren Rand steht sehr kleingedruckt in Anführungszeichen ein weiterer Name: "Sawyer".


Tuesday, December 14, 2010

Apartment 14

Neunter Stock

Die Klingel ist abgestellt.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, die ganze Etage hat keinen Strom, wirkt wie aus dem vor-vorigen Jahrhundert, nur beleuchtet mit Öllampen und Kerzen. Aber ich bin doch mit dem Fahrstuhl hier herauf gekommen. Oder würde der auch in einer Etage funktionieren und anhalten, in der es keinen Strom gibt?

Es ist wieder eine der größeren Wohnungen. Eingangstür direkt neben dem Fahrstuhl. Wahlweise öffnet sich der Fahrstuhl auch direkt in die Wohnung, wenn man den richtigen Schlüssel hat. Und kein langer Flur an der Westseite des Gebäudes entlang von Norden her in Richtung Süden mit einem großen Panoramafenster am Ende. Zumindest nicht außerhalb dieser großen Wohnung, wo er in den unteren Stockwerken zwei Wohnungen miteinander verbindet.

Die Initialen "M.D." stehen auf dem goldenen Namensschild, mehr nicht. Sie scheinen im Glanz einer Kerze zu leuchten, die das Treppenhaus und den kleinen Raum vor dem Fahrstuhl erhellt.

Als ich an die Tür klopfen will, schwingt diese leicht nach innen auf. Ich lausche, und selbst, als ich nichts aus dem Inneren höre, trete ich vorsichtig ein. Und schon glaube ich, nicht mehr im Haus in der Whitaker Lane 666 zu sein, sondern eher im großzügigen Foyer eines noblen Luxushotels. Die Wände sind nicht tapeziert sondern mit einem samtenen, violett-roten Stoff bespannt. Direkt gegenüber der Eingangstür öffnet sich eine doppelflügelige Mahagonitür weit in den hinteren Teil der Wohnung. Rechts und links davon stehen zwei edle und antike Plüschsofas an der Wand. Ebenfalls rechts und links der offenen Doppeltür hängen zwei riesige Spiegel mit reich verzierten Goldrahmen, doch die eigentlichen Blickfänge sind zwei meterhohe Filmplakate, die hinter Glas gerahmt jeweils neben den Spiegeln hängen.

Beide Plakate zeigen die gleiche Frau, eine schlanke Filmdiva vom Anfang des letzten Jahrhunderts in aufwendigen Roben. Auf beiden ist das Gesicht der Frau nicht zu erkennen. Auf einem trägt sie einen schwarzen Trauerschleier zu einem dramatisch großen Hut, auf dem anderen ein Hochzeitskleid mit dünnem, weißem Schleier. DIE GÖTTLICHE und DER SCHWARZE ENGEL verkünden große, leuchtende Buchstaben die Titel der Filme. Der Name der Hauptdarstellerin jedoch wurde kunstvoll geschwärzt, sodass nur noch die Initialen "M.D." übrig geblieben sind.

Und auch hier in diesem pompösen Eingangsbereich kein elektrisches Licht, nur flackernde und zischende Öllampen.

"Sind Sie der Lieferant?" schallt da plötzlich eine tiefe, tönende und zugleich kratzige Stimme aus dem hinteren Teil der Wohnung. Ich glaube, einen fremdländischen, vielleicht slawischen Akzent heraushören zu können. Langsam bewege ich mich auf die Stimme zu durch die weit geöffnete Doppeltür.

"Nein", antworte ich wahrheitsgemäß. "Mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit…"

Ich bin am Wohnzimmer angekommen. Durch eine weitere geöffnete Tür kann ich die sitzende Gestalt einer offenbar sehr alten Frau erkennen. Sie trägt ein altmodisches, aber elegantes, helles Kleid und sitzt in einem Sessel, ein aufgeschlagenes Buch in den schrumpeligen und krummen Fingern auf ihrem Schoss. Und sie trägt einen hellen Hut mit einem Schleier vor dem Gesicht, unter dem sich nur die Umrisse einer großen, dicken Brille abzeichnen.

"Hinaus!" brüllt sie, und ihre tiefe, brummige Stimme überschlägt sich beinahe dabei. "Er soll verschwinden, wenn er nicht der Lieferant ist!" Sie wendet das Gesicht von der Tür ab und hält die faltigen Hände schützend an ihren Kopf. "Wir drehen seit sechzig Jahren keine Filme mehr! Wir geben seit fünfzig Jahren keine Interviews mehr und haben seit vierzig Jahren diese Wohnung nicht verlassen! Könnt ihr uns nicht endlich in Ruhe lassen? Müsst ihr uns denn ständig verfolgen? Hinaus! Alma! Wo ist Alma, wenn man sie braucht?"

Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück. In diesem Moment spüre ich einen Lufthauch von der Eingangstür her, und die Kerzen und Lampen beginnen im Zug zu flackern. Dort steht eine große, schlanke und grauhaarige Frau, die die Sechzig auch schon eine Weile hinter sich gelassen hat.

"Alma, wo ist nur meine Alma!" jammert die verhüllte Gestalt im Wohnzimmer weiterhin theatralisch. Die Frau an der Eingangstür stellt die prall gefüllten Einkaufstüten, die sie mitgebracht hat, im Eingangsbereich ab und hastet an mir vorbei zu der noch älteren Frau in ihrem Sessel. Behutsam nimmt sie die Hände der Frau in ihre und führt sie sanft aus ihrer schützenden und verkrampften Haltung am Kopf herunter, zurück in den Schoss der Frau im Sessel.

"Ich bin doch hier, Madam", redet sie beruhigend auf die andere ein, "Ihre Alma ist genau hier!" - "Machen Sie, dass er weg geht!" schluchzt die alte Frau. "Er soll uns nicht so sehen! Er soll weg gehen."

Alma nickt, kommt dann mit raschen Schritten zu mir auf den Flur und zieht im Gehen die Wohnzimmertür hinter sich zu. "Wer auch immer Sie sind", flüstert sie mir zu, "Sie sind hier nicht erwünscht. Bitte gehen Sie, und kommen Sie nie wieder hierher!" Mit diesen Worten schiebt sie mich aus der Wohnungstür hinaus in Richtung Fahrstuhl.

In der Sekunde, bevor sich die Tür zu Apartment 14 schließt, fällt mein Blick noch einmal auf die beiden Filmplakate, und ich bin mir nun sicher, dass die verschleierte und verängstigte alte Frau im Wohnzimmer DER SCHWARZE ENGEL und DIE GÖTTLICHE aus diesen beiden Filmen ist.

Monday, December 13, 2010

Apartment 13

Achter Stock

Seltsam. Ich klopfe zum wiederholten Male, aber niemand macht auf. Von außen sieht die Tür aus wie alle anderen Apartmenttüren im Haus Whitaker Lane 666 auch, edles Holz, weiß gestrichen mit einer grauen Maserung und einem kunstvoll geschwungenen Bogen am oberen Rand. Aber an der Tür zu Apartment 13 gibt es kein goldenes Namensschild und auch keinen Türspion. Anstelle der Klingel klafft ein rundes Loch in der Wand daneben. Und nach einiger Zeit fällt mir auf, dass diese Tür nicht einmal eine Klinke hat. Sehr und mehr als seltsam. Ich presse mein Ohr an die Tür, aber von drinnen ist kein Laut zu hören.

Nun gut. Wenn hier niemand wohnt, dann gibt es auch niemanden zum Kennenlernen. Und wer will schon in einem Apartment mit dieser Unglücksnummer wohnen? Hat unser Haus eigentlich einen dreizehnten Stock? Zum Glück ist heute nicht Freitag.

Sunday, December 12, 2010

Apartment 12

Siebter Stock

Das zweite große Apartment. Und hier herrscht Leben und Fülle, wenn man es denn so nennen möchte. Das Apartment ist groß, aber beinahe nicht groß genug.

Paul Starr kenne ich schon als Gitarristen der "Buggles". Er ist, wie seine anderen Bandkollegen, um die sechzig Jahre alt, und seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet mit seiner jüngeren und unglaublich blonden und hübschen Frau Linda.

Linda, die langen Haare mit einem Kopftuch zurückgebunden, lacht und winkt mir aus der Küche zu, wo sie versucht, Keksteig und ihre fünf wuseligen Kinder zu bändigen. Ihr Gesicht ist leicht gerötet und Stirn und Wangen sind mit Mehl gepudert. Die Wohnung ist erfüllt vom lärmenden Kindergeschrei und von den weihnachtlichen Klängen, die Paul im Wohnzimmer auf seiner Gitarre erzeugt.

Ich setze mich kurz zu ihm, aber an diesem Nachmittag kommt es zu keinem tiefsinnigen Gespräch oder Gedankenaustausch. Schon bald zerren mich James und Beatrice Milly, die beiden jüngsten Kinder der Starrs, fünfjährige Zwillinge, hinter sich her in die Küche, wo ich beim Weihnachtsplätzchenbacken helfen muss.

Heather, die älteste Tochter, ist dreizehn. Mary ist zwölf und Stella zehn Jahre alt. Heather steht eher desinteressiert in einer Ecke, während ihre Geschwister wahlweise damit beschäftigt sind, sich um den Küchentisch herum zu jagen, ihrer Mutter den Teig zu stibitzen oder laut johlend Keksförmchen durch den Raum zu werfen. Nach einer Weile steht auch Paul selig lächelnd in der Küchentür und betrachtet das turbulente Treiben mit einem zufriedenen Grinsen.

Und wir bekommen tatsächlich einige Tannenbäume, Glöckchen und Sterne zustande, die wir uns dann wahlweise mit heißem Kakao für die Kinder und einem guten Glas Wein für die Erwachsenen schmecken lassen.

Irgendwann, als die Kinder zu Bett gegangen sind, kehrt dann auch so etwas wie Ruhe und Besinnlichkeit ein. Und wir alle haben endlich Gelegenheit festzustellen, wie anstrengend dieser schöne Tag war.

Beim Abschied an der Wohnungstür hält Linda mich noch einen Moment auf. Sie verschwindet noch einmal kurz in der Küche und kommt mit einer bis zum Rand mit selbstgemachtem Gebäck gefüllten Keksdose zurück. Ich versuche zu protestieren, aber sie lässt sich nicht davon abhalten, sie mir aufzudrängen. Dann verabschiedet sie mich mit den Worten: "Ich wünsche Dir noch einen schönen dritten Advent, Bromford. Und nicht alles auf einmal essen!"

Saturday, December 11, 2010

Apartment 11

Sechster Stock

Das erste, große Apartment, das sich über eine ganze Etage ausbreitet, also so groß ist wie zwei Wohnungen, die sich bislang ein Stockwerk geteilt haben. Kathrine Jane Austen? Woher kenne ich nur diesen Namen? Ist sie irgendeine Berühmtheit? Kenne ich den Namen aus diesen Klatschmagazinen, die immer beim Friseur oder beim Arzt im Wartezimmer ausliegen?

Eine rundliche, asiatische Frau in einer gestärkten Schürze öffnet auf mein Klingeln hin die Tür. "Miss Austen?" frage ich, doch die kleine Frau lächelt nur. "Mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit über einem Jahr Bewohner des…" Und die kleine Frau lächelt weiter und schüttelt dabei den Kopf. "Ich nichts…"

"Mai Ling, wo bleibst Du denn? Wer ist denn da?" hallt da eine zweite weibliche Stimme durch die Wohnung. Die kleine, asiatische Frau fühlt sich angesprochen und deutet mir verschreckt an, ihr zu folgen.

Sie sitzt im Wohnzimmer auf einem dick gepolsterten, erhabenen Stuhl, der ein wenig an einen Thron erinnert. Aber Sitzen kann man es eigentlich nicht nennen. Sie liegt eher, in einen seidenen Morgenmantel gekleidet, der fließend um sie und über den Stuhl fällt, hingestreckt und feilt sich die Fingernägel. Dabei schüttelt sie immer wieder ihr langes, braunes Haar und wirft es sich in den Nacken. Mai Ling kehrt in eine hockende Stellung zu ihren nackten Füßen zurück und fährt mit ihrer Pediküre fort, um ihr anschließend die Fußnägel in einem violetten Pflaumenton zu lackieren.

An einer der Wände, beleuchtet von vier Halogenstrahlern, hängt ein überlebensgroßes Plakat, das die Frau auf dem Stuhl zeigt. Sie lächelt mit gebleichten Zähnen und hält ein Buch mit dem Deckel in Richtung des Betrachters. Darunter steht in leuchtend roten Buchstaben: "Kathrine Jane Austen stürmt die Bestsellerlisten". Jetzt erkenne ich sie. Das ist Kathrine Jane Austen, Möchtegern-Schriftstellerin aber vor allem Tochter von Charles Desmond Austen, einem weltweiten Waffenhändler, Lobbyisten und Multimilliardär.

Sie schreibt Liebesschnulzen, die im 18. Jahrhundert spielen, in denen sich regelmäßig ehrbare, adelige Fräuleins in ihre Kutscher oder Stallburschen verlieben oder wahlweise ältere Lords in ihre ehrbaren, aber armen Stubenmädchen. Diese Bücher tragen entweder alle Frauennamen wie "Claire" oder "Juliet", wenn Frauen die Hauptpersonen, oder Wortkombinationen wie "Stolz und Traurigkeit" oder "Sinn und Übersinn", wenn die Hauptakteure männlich sind. Mit ihren mehr als dürftigen Machwerken hat sie einige Male, sehr zur Verwunderung aller Literaturkritiker und auch der Buchhändler, die Spitzen der Bestsellerlisten der renommiertesten Wochenmagazine und Kaufhäuser des Landes gestürmt, bis herauskam, dass die gesamten, irrsinnigen Auflagen gar nicht erst in die Läden gekommen sondern samt und sonders von ihrem eigenen Vater aufgekauft worden waren. Was Miss Austen allerdings nicht davon abhält, sich noch immer als literarisches Genie zu verstehen und als angehende Literatur-Nobelpreisträgerin zu sehen.

"Sind Sie der Reporter von der 'Weltzeit'?" fragt sie, ohne von ihren Nägeln aufzuschauen. "Sie sind zu früh. Aber ich werde Ihnen von meinen neusten Buchplänen erzählen. Ein armes, hübsches Bauernmädchen verbrennt das Haus mit ihrem Stiefvater darin, um ihre Mutter vor ihm zu retten. Aber ihre Mutter verstößt sie und zeigt sie bei der Strafverfolgung an. Das arme, aber bezaubernde Mädchen muss also fliehen und wird schon bald von einem gutaussehenden, adeligen Polizisten gejagt. Er fängt sie schließlich, aber das ist erst der Beginn der Geschichte." Dann faucht sie ihre asiatische Angestellte an: "Beeilung, wenn ich bitten darf, Mai Ling!"

Kann es sein, dass dieser Plot, den sie da gerade beschrieben hat, interessanter sein könnte, als alles, was sie bisher veröffentlicht hat? Sollte Miss Austen tatsächlich gelernt haben, Geschichten zu erzählen und sie niederzuschreiben? Doch dann fährt sie fort: "Und schließlich verlieben sich das Bauernmädchen und der Polizist ineinander." Nein, wird sicherlich nur wieder einer ihrer schnulzigen Standard-Schundromane.

"Ich bin kein Reporter", sage ich. "Dann sind Sie ein Fan und wollen ein Autogramm!" ruft sie erfreut aus. "Mai Ling, meine Autogrammkarten, aber Zack! Zack! Es ist wunderbar bis in die eigene Wohnung gestalkt zu werden. Sie sind mein erster und bislang einziger Stalker." Sie scheint ganz aus dem Häuschen zu sein vor Begeisterung.

"Eigentlich bin ich nur Ihr Nachbar", antworte ich, und es ist mir fast unangenehm, dass ich sie nicht auf Schritt und Tritt verfolge, wie sie es sich offenbar erträumt. "Mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit über einem Jahr Bewohner des Penthouses auf dem Dach dieses Gebäudes. Ich wollte mich nun endlich einmal offiziell bei Ihnen vorstellen!"

"Oh!" sagt sie und rafft ihren Morgenrock am Hals zusammen. "Wissen Sie, das passt mir gerade gar nicht. Wie Sie sehen, bekomme ich gerade eine Pediküre und bin nicht richtig angezogen. Können wir das Ganze nicht verschieben auf … sagen wir, das nächste Leben!" Falls das eine bissige Bemerkung gewesen sein sollte, hat sie den Ton verfehlt. Ihre strahlend grünen Augen starren an mir vorbei ins Leere. Es ist als spiegelten sich grüner Urwald und der Strand und das Meer einer einsamen Insel darin.

"Ich habe Angst vor Flugzeugabstürzen und davor eingesperrt zu sein", haucht sie. "Und als Kind hatte ich nie ein Pferd." Hohe Wellen brechen sich schäumend an einer felsigen Küste, wenn ich in ihre Augen blicke. "Und nennen Sie mich nicht Kate oder Sommersprosse!"

Dann schüttelt sie den Kopf und was auch immer gerade geschehen ist, ist vorbei. "Raus jetzt!" Keift sie mich an. "Ich habe keine Zeit für lästige Nachbarn und Brot und Salz zum Einzug oder ähnlichen Quatsch. Mai Ling, begleite den Herrn hinaus!"

Und unter ständigen, freundlichen Verbeugungen werde ich von der rundlichen, kleinen Frau in den Vorraum der Wohnung und in Richtung Fahrstuhl gedrängt. Und in meinem Inneren kann ich das Meer und Palmen im Wind rauschen hören.

Friday, December 10, 2010

Apartment 10

Fünfter Stock rechts

Das Klavier! Das Klavier! Ein Klavier! Ein Klavier!

John Harrison, zweiter Teil der "Buggles", brüllt gerade jemanden im Apartment hinter sich an, als er mir die Tür öffnet. "Bromford, komm' doch rein!" schreit er mich an, weil er vergessen hat, seinen Ton von "Streit" auf "Besuch empfangen" und "freundlich" umzustellen. "Willst Du ein Bier?" Noch immer in der gleichen Lautstärke. Und bevor ich widersprechen oder zustimmen kann, fliegt mir auch schon eine gekühlte Büchse aus der Küche entgegen. Ich fange sie auf und werde ins Wohnzimmer geschoben. "Trink'! Solange noch was da ist!"

Er schließt die Wohnzimmertür hinter sich, als er auf den Flur hinausgeht, um seinen Streit zu beenden. Ich kann noch zwei andere, männliche Stimmen hören, während die Worte und Fetzen fliegen. Worum es in diesem Streit geht, höre ich nicht heraus. Dann knallt die Wohnungstür ins Schloss, und es ist still.

"Schmarotzer sind das!" poltert John, als er wieder ins Wohnzimmer zurückkommt, nun ebenfalls mit einem Bier ausgerüstet. Wir stoßen an und prosten uns zu. "Undankbares Pack! Da ernährt man sie über dreißig Jahre lang und bekommt dafür nichts als Frechheiten an den Kopf geworfen. Schlimmer noch als ihre Mütter. Undank ist der Welten Lohn…"

Er stürzt das Bier in einem Zug hinunter und drückt die Dose auf dem Wohnzimmertisch zusammen. Dann springt er ans Klavier und drischt die Eröffnungsklänge von Beethovens 5. Symphonie in die Tasten. Sein langes, graues Haar flattert dabei beinahe beängstigend hinter seinem Rücken.

Gestritten hat er mit seinen beiden Söhnen, Julian aus seiner ersten Ehe mit Cynthia und Sean Taro aus seiner zweiten Ehe mit Yoko. Beide Ehen sind geschieden, beide Ehefrauen lange über alle Berge, aber die beiden erwachsenen Söhne, beide um die dreißig Jahre alt, wohnen noch immer bei ihrem alten Herrn und machen auch keine Anstalten auszuziehen.

"Manchmal", John schmeißt sich erschöpft nach dem Streit und dem musikalischen Ausbruch neben mich auf das Sofa, "habe ich das Gefühl, als wäre ich am 08. Dezember 1980 vor meiner Wohnung in New York erschossen worden, wenn Du verstehst, was ich meine. Ich weiß gerade auch nicht warum." Dann klopft er sich klatschend auf die Schenkel, springt wieder auf und geht in die Küche, um seine letzten Bierreserven zusammenzukratzen.

Wir kippen eins nach dem anderen. Irgendwann lallt er mit schon leicht schwerer Stimme: "Weißt Du was, Bromford Bibble? Du solltest mein Sohn sein, nicht diese Hansels mit den Schlüsseln für meine Wohnung!" Wir sehen uns kurz an, brechen in lautes, sinnloses Gelächter aus, dann trinken wir weiter, bis das Bier alle und es Zeit für mich ist, nach Hause zu gehen.

Thursday, December 09, 2010

Apartment 9

Fünfter Stock links

Diesen Mann kenne ich. Das ist George McCartney, die Posaune, Mitglied der Kellerband "The Buggles" und Duettpartner des Klaviers, also von John Harrison, der demnach im Apartment nebenan wohnen muss. Gerne erinnere ich mich an jene heißen Tage in Bromford in meinem ersten Sommer in der Stadt und wie mich ihre Musik auf der Dachterrasse zum Träumen gebracht hat. Wie konnte ich nur jemals glauben, die Klänge der Posaune kämen aus einem der Nachbarhäuser von gegenüber? Aber dass sie und das Klavier aus Wohnungen zehn Stockwerke unter mir kommen, konnte ich da auch noch nicht ahnen.

Ja, ja, die "Buggles" mit ihrem Übungskeller in diesem Haus mit den Eierkartons an den Wänden. Die "Imaginary Four" der Whitaker Lane. George und ich wissen nicht, wer zuerst diesen Namen trug – "The Buggles" – die Hobbygruppe der vier Frühsechziger oder jene One-Hit-Wonder-Band, die ihren einzigen Hit mit "Video Killed The Radio Star" Ende der Siebziger Jahre hatte.

"Wir haben uns 1970 so genannt", erzählt mir George mit einem rührseligen Grinsen im Gesicht und zeigt mir Schwarz-Weiß-Fotos von ihrem bislang einzigen öffentlichen Auftritt, ausgerechnet auf dem Dach dieses Hauses. "Du verstehst schon, wegen dieser anderen Band aus Liverpool, die sich da gerade getrennt hatte. So mit Anspielung auf Käfer und so…" Er seufzt voller Erinnerungen an diese vergangene und, in der Erinnerung verklärt, vielleicht sogar bessere Zeit.

Und da ist Olivia auf einem anderen Foto, seine viel zu früh verstorbene Ehefrau. Sie trägt ihren inzwischen erwachsenen Sohn Dahni auf dem Arm. Beide lachen breit und winken fröhlich in die Kamera. "Ja, der Dahni!" Wieder ein wehmütiges Seufzen. "Manchmal übernachtet er bei mir, wenn er in der Stadt ist."

Er habe früher viel und gern fotografiert, neben der Musik sein größtes Hobby, sagt er. Wenn er gekonnt hätte, wie er gewollt hätte, dann wäre er ein musizierender Fotograf geworden, immer auf Achse, immer auf der Suche nach neuen, aufregenden Motiven. "Aber dann kamen Frau und Kind. Die wilden Sechziger und Siebziger Jahre waren irgendwann vorbei. Und ich habe angefangen, in der Bank zu arbeiten."

Zu fotografieren gäbe es heute nicht mehr viel, sagt er. Reisen hätte er auch nicht viele gemacht. Paris sei sein bisher weitestes Ziel gewesen. "Aber als ich den Eiffelturm fotografiert und hinterher die Bilder entwickelt hatte, da sah der auch nicht besser aus als jeder x-beliebige Strommasten. Da wusste ich, dass die Fotografiererei nichts für mich ist. Und alles, was mir bleibt, ist die Musik einmal die Woche in Johns Keller."

Als ich ihn frage, warum er denn jetzt, da er im Ruhestand sei, die verpassten Reisen nicht nachhole, er sei doch noch fit und rüstig und noch nicht so alt, da winkt er ab und lacht. "Man wird alt, wenn die Leute sagen, dass man jung aussieht", sagt er tiefsinnig und zitiert damit einen beinahe siebzigjährigen deutschen Entertainer.

Er macht mich irgendwie traurig und darum verspreche ich ihm beim Abschied, nächsten Sonntag mal wieder bei einer Probe der "Buggles" im Keller dieses Hauses vorbeizuschauen.

Wednesday, December 08, 2010

Apartment 8

Vierter Stock rechts

Er ist ein freundlicher und fröhlicher junger Mann. Ein Berg von einem Mann, oder eher ein gewaltiger Felsbrocken mit enormen Körperausmaßen. Eine Figur wie ein übergewichtiger Bär mit einem Herzen aus Gold, so kommt es mir vor. Seine langen, lockigen Haare wippen lustig auf und ab, wenn er den Kopf bewegt. Er trägt Jeans in Übergröße und ein weites, kariertes Flanellhemd, wie es Holzfäller oder Grunge-Musiker tragen würden.

"Alter, das ist eine Spitzenidee, sich mal bei allen Nachbarn vorzustellen", bricht es aus ihm heraus, während er mir Kartoffelchips aus einer Plastiktüte anbiete. "Hätte ich auch schon längst mal machen sollen!" stößt er mit vollem Mund hervor. Dann wird er nachdenklich. Im Grunde kenne er keinen seiner Nachbarn näher, obwohl er sich mit einigen von Ihnen seltsam verbunden fühle, ohne so recht zu wissen, warum. Besonders, wenn er an die Bewohner der Apartments 4, 15, 16 und den schrägen Vogel aus Apartment 23 denke, überkäme ihn so ein eigenartiges Gefühl von Vertrautheit und Vorahnung. Aber auch dem Piloten aus Apartment 2, der hübschen Schriftstellerin aus der 11 und dem Pärchen aus Apartment 20 fühle er sich eigentümlich nahe, auch wenn er letzteres nicht verstehen könne, da sie irgendeine asiatische Fremdsprache sprächen.

Sein Name ist Hugo Reyes, aber Freunde, zu denen er mich schon nach wenigen Augenblicken zählt, dürfen ihn "Hurley" nennen. Er selbst nennt sich selbst auch so und mich nennt er "Dude!", eine Bezeichnung, die ich eher mit wandernden Riesenschildkröten im ostaustralischen Strom aus einem computer-animierten Trickfilm über orange-weiße und vermisste Clownsfische in Verbindung bringe.

"Eigentlich bin ich der glücklichste Mann der Welt", meint er unvermittelt. Dann berichtet er von seinem Millionen-Lottogewinn und seiner Kette von Schnellrestaurants, in denen ausschließlich Hühnerfleisch in allen möglichen Zubereitungsformen serviert wird. "Früher habe ich in einem von denen im Fett gestanden und Hähnchenkeulen gegrillt. Und heute gehören mir die Läden. So ändern sich die Zeiten", lacht er. Dann erzählt er mir von der "schicken Hütte", die er seinen Eltern gekauft hätte, und davon, dass sich die beiden gerade erst wieder versöhnt hätten nach jahrzehntelanger Funkstille, um dann schließlich eher kleinlaut zu gestehen, dass er sich dieses Apartment in der Whitaker Lane 666 nur deshalb gekauft hätte, weil er es schon nach kürzester Zeit nicht mehr ausgehalten hätte mit seinen alten Herrschaften unter einem Dach, egal wie groß die neue Hütte auch sei.

"Klein, aber mein, Alter!" grinst er und zeigt mir seine für einen Millionär äußerst schlicht eingerichteten Räumlichkeiten. Dann stellen wir fest, dass alle Apartments und Wohnungen in diesem Haus, das einmal das höchste Gebäude in Bromford war, Eigentumswohnungen sind. Keine ist an dritte vermietet, alle werden von ihren Besitzern bewohnt. Und während ich mich noch frage, ob das Penthouse auf dem Dach dieses Hauses wirklich mir gehört, und ob "Alter!" eigentlich eine adäquate Übersetzung für "Dude!" ist, neigt sich ein angenehmer und erfreulicher Abend auch schon wieder dem Ende zu.

Vielleicht würde ich in den nächsten Tagen eine Einladung zu einer Weihnachts-Hausbewohner-Kennenlern-Feier in einem seiner Restaurants in meinem Briefkasten finden, ruft mir Hurley noch hinterher. "Wirklich eine Spitzenidee, mal alle kennenzulernen, Alter!"

Tuesday, December 07, 2010

Apartment 7

Vierter Stock links

Haben die Nummern und die Bewohner der Apartments etwas miteinander zu tun? Ich lasse gerade noch einmal die Bewohner vor meinem geisteigen Auge Revue passieren. Wen habe ich denn inzwischen alles getroffen auf meiner "Vorstellungsrunde"? Zwei ältere Damen, einen offensichtlich alkoholabhängigen Piloten, ein mysteriöses südländisches Ehepaar, einen modernen Naturburschen auf Survival-Trips und einen französischen Adeligen. Das wievielte Apartment ist das hier? Das siebte.

Kennt jemand den Film "Sieben" von Regisseur David Fincher? Den mit Brad Pitt, Morgan Freeman und der armen Gwyneth Paltrow? Wird mich jetzt in Apartment Nummer 7 ein Serienmörder erwarten, der sich seine Opfer und Mordmethoden anhand der sieben Todsünden aussucht? Wundern würde es mich nicht.

"Samantha Somerhalder" steht auf dem goldenen Türschild unter dem fischigen Glotzauge des Türspions. Ich klopfe an. Eine strenge Frau mit einer steifen Hochsteckfrisur in einem braun-grauen Kostüm öffnet mir. Sie wirkt verhärmt und irgendwie vertrocknet, ist aber auf den zweiten Blick kaum älter als ich, geht also stark auf die Ende dreißig zu.

Aber diese Frau kenne ich. Ist das nicht die Lehrerin, die auf dem Bärenpark Picknick mit ihrer dritten Grundschulklasse den Pinguintanz aufgeführt hat? Ob sie sich von dem Schrecken mit dem Eisbären erholt hat? Irgendwie sieht es nicht danach aus.

"Hallo, mein Name ist Bromford Bibble, und ich bin seit über einem Jahr Bewohner des Penthouses auf dem Dach dieses Gebäudes. Ich wollte mich nun endlich einmal offiziell bei meinen Nachbarn vorstellen!" trage ich meinen Standardspruch vor und versuche dabei, möglichst gewinnend zu lächeln.

Sie betastet den Dutt an ihrem Hinterkopf und zieht ihren Rock gerade und glatt, obwohl er zuvor nicht wirklich krumm oder faltig gewesen wäre. "Das ist aber nett von Ihnen, sich vorzustellen!" verkündet sie. "Von den meisten Nachbarn erfährt man erst, dass sie auch hier gewohnt haben, wenn sie schon längst wieder ausgezogen sind. Aber ich habe im Moment leider so gar keine Zeit!"

Dann murmelt sie noch etwas von Gemeinschaft stärken und Personalisierung der Wohnumgebung und wühlt dabei in einem Haufen Zeitungen auf ihrer Garderobe. Schließlich zieht sie einen bunten Zettel hervor und überreicht ihn mir. Er ist mit handgemalten Kerzen und Tannenzweigen verziert, offensichtlich von kleinen Kinderhänden.

"Besuchen Sie uns doch im Gemeindezentrum der Bromford Kathedrale zu unserem alljährlichen Krippenspiel. Dieses Jahr haben meine dritte Grundschulklasse und ich uns wirklich etwas Zauberhaftes einfallen lassen! Aber nun muss ich weg! Einen schönen Tag noch."

Sie zögert kurz, wirft sich dann einen Wintermantel über und schließt hinter uns ihre Wohnungstür ab. Auf dem Weg zum Fahrstuhl knöpft sie den Mantel nicht zu. Als sie bemerkt, dass ich den Aufzug nehmen werde, geht sie einige Schritte zur Seite und nimmt die Treppe. Wieder zögert sie, und erst als sie hört, wie sich die Fahrstuhltüren hinter mir schließen, setzt sie sich wieder in Bewegung. Durch die gläsernen Schlitze in den Seiten der Kabine sehe ich, dass sie nicht nach unten geht in Richtung Ausgang sondern nach oben steigt. Und löst sie dabei tatsächlich ihre strenge Hochsteckfrisur und zerzaust sich ihr langes, ergrauendes Haar?

Monday, December 06, 2010

Apartment 6

Dritter Stock rechts

Den weißen Vollbart feinsäuberlich gestutzt, das lange, weiße Haar mit Pomade oder etwas in der Art an den Kopf gelegt, so steht er vor mir. Gewandet in einen kurzen, roten Hausmantel mit weißen Aufschlägen über einer langen, schwarzen Stoffhose, raucht er eine filigran geschnitzte Meerschaumpfeife, der ein süßlicher Geruch nach Vanille und Zimt entsteigt. Er nickt huldvoll und bittet mich herein.

Sein Name ist wirklich klangvoll: Sir Nicolas de Noelle. Das klingt nach altem französischem Adel mit dem Ritterschlag der britischen Königin. Verarmter Adel? Ich weiß es nicht. Würde sich ein reicherer Sir nicht eine der größeren Wohnungen in der Whitaker Lane 666 leisten können statt sich eine Etage ausgerechnet mit Roswitha Mauer zu teilen?

"Das hier war einmal eine erstklassige Wohngegend!" sagt Sir Nicolas und stößt versonnen seinen Tabakrauch aus. "Weit genug entfernt vom Lärm und Gestank des Hafens, aber immer noch nah genug am Meer, um das Salz in der Luft zu schmecken, wenn man die Fenster öffnet. Heute findet das hochwohlgeborene und adelige Leben ein ganzes Stück von hier entfernt statt. Noch weiter weg von der Brücke, dem Hafen und dem Meer!"

Er deutet in eine unbestimmte Richtung hinaus in die erleuchtete Dunkelheit. Wir stehen an einem der Fenster, das einen Ausblick auf Bromfords Südseite bietet. Die Lichter der noch höheren Hochhäuser funkeln und blinken gegen den sternenklaren Nachthimmel. Während meines jüngsten Aufenthalts im Weltall – und wir wollen es von nun an und in alle Ewigkeit so nennen, auch wenn mein mir nur zu gut bekannter Blogkommenterrorist es vermutlich anders bezeichnen würde – während meiner Abwesenheit also scheint die Stadt wirklich erstaunlich gewachsen zu sein, vor allem in die Höhe.

"Früher war mehr Anstand und Respekt", sinnt Sir Nicolas weiter, "und ich spreche jetzt nicht von Standesdünkeln. Ich habe mir nie etwas auf meine Herkunft eingebildet, aber mir fehlen die morgendlichen Milchmänner und die bekannten Gesichter auf der Straße, die einen mit vollem Namen ansprechen."

Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll, nicht einmal, ob er überhaupt Hilfe braucht. Ich weiß nicht einmal, worüber er sich beklagt. Würde es ihm helfen, wenn ich ihn einmal am Tag mit "Guten Tag, Sir Nicolas de Noelle!" begrüßen würde? Ist es das, was er vermisst und sich wünscht? Oder ist er einfach nur einsam? Würde er mich von sich aus begrüßen, wenn wir uns auf der Straße träfen? Würde er sich meinen Namen merken?

"Bromford Bibble, der junge Mann, der heißt wie die Stadt!" verabschiedet er mich schließlich mit einem herzlichen Lächeln. Dann drückt er mir einen gefüllten Stiefel in die Hand. "Weil heute ein ganz besonderer Tag ist", flüstert er und zwinkert mir verschwörerisch zu.

Sunday, December 05, 2010

Apartment 5

Dritter Stock links

Roswitha Mauer ist eine stadtbekannte Berühmtheit seit sie am 09. November 1989, also vor über zwanzig Jahren aus bisher und noch immer unbekannten Gründen gefallen ist. Bilder von diesem Sturz tauchen alle Jahre wieder im November in allen Zeitungen auf, auch wenn niemand so genau weiß, was es denn am Jahrestag dieses Ereignisses zu feiern gibt, am allerwenigsten Roswitha Mauer selbst, jene rüstige Rentnerin mit der blau gefärbten Nerzfellmütze, die sie im Winter nicht einmal in ihrer Wohnung absetzt.

Hinter ihr brennen mindestens zehn Adventskranzkerzen. Nicht alle an einem einzigen Kranz, sondern jeweils zwei an mindestens fünf verschiedenen Adventskränzen. Und sie ist nicht allein. Während meines mehr als kurzen Aufenthalts in ihrem Eingangsbereich zähle ich mindestens zehn Katzen unterschiedlichster Größe und unterschiedlichsten Alters. Ich hasse Katzen. Und Roswitha Mauer hasst Menschen. Sie bringen ihr nichts, sie geben ihr nichts, sagt sie mir mit jedem Wort, jedem Blick und jeder Geste.

"Und es war doch ein Flugzeug, das in die Bromford Kathedrale geknallt ist am 09. November 2009!" brüllt sie mir noch hinterher, als ich mich zurückziehe. Dabei schwenkt sie einen mit Flachsgespinst umwickelten Katzenkratzbaum drohend in meine Richtung.

Saturday, December 04, 2010

Apartment 4

Zweiter Stock rechts

Die Wohnung des Latino-Pärchens nebenan ist heute verdächtig ruhig, aber darüber geht mein heutiger Gastgeber schweigend hinweg, ebenso wie über die Tatsache, dass wir gestern beide bemerkt haben, dass mit Izabella und Enrico und den schwarzen Männern irgendetwas nicht stimmte. Was, wenn diese Spanier, Südamerikaner oder was auch immer, sich gegenseitig etwas angetan haben?

Das dampfende Getränk, das mir der Bewohner von Apartment 4 in die Hand drückt, lenkt mich von meinen Gedanken um seine Nachbarn ab. "Der Saft der Maniok-Wurzel", verkündet er stolz. "Hat mich schon manchen Survival-Trip in den Dschungel überstehen lassen. Aber da konnte ich ihn natürlich meistens nicht heiß aufbrühen!"

Er lacht ein eigentümliches Lachen, das Falten um die Augen in seinem runden Gesicht wirft. Dabei nickt er mir aufmunternd zu, als müsste ich diesen seinen Scherz verstehen und seine Erheiterung auf jeden Fall teilen. Während ich versuche, an dem dampfenden und irgendwie mehligen Gesöff wenigstens zu nippen, hängt er sein Jagdmesser, mit dem er die Maniok-Knolle aufgeschnitten hat, zurück in eine gläserne Vitrine.

Es gibt viele Waffen dieser Art in seiner Wohnung. Messer, Dolche und Macheten in allen Formen und auch Farben. Einige hängen direkt an der Wand, andere sind in gläsernen Schränken oder offenen Kisten ausgestellt. Aber es gibt auch mehrere Sätze Pfeil und Bogen und auch etwa ein halbes Dutzend Angelruten. Alles wirkt irgendwie folkloristisch, aber nicht wie Touristensouvenirs sondern wie persönlich von ureingeborenen Naturvölkern auf der ganzen Welt in mühevoller Handarbeit herstellt. Sie wirken wie Geschenke, die mein Gastgeber hegt und pflegt, aber auch in Gebrauch hat. Und ich kann keine Schusswaffen entdecken.

Er ist ein großer, kräftiger Mann. Muskulös, aber nicht wie von Fitnessmaschinen in einem Sportstudio, sondern eher wie von körperlichem Einsatz geformt. Ich schätze ihn auf Mitte bis Ende Vierzig. Ob er seine Glatze trägt, weil er sich die Haare abrasiert oder weil sie ihm ausgegangen sind, vermag ich nicht zu erkennen. Über seine rechte Gesichtshälfte verläuft eine Narbe wie von einem tiefen Schnitt.

Verschiedene gerahmte Fotografien an den Wänden zeigen ihn in allen möglichen Teilen der Welt, manchmal mit anderen Menschen, öfter aber mit den unterschiedlichsten Jagdtrophäen. Auf einem Bild, das offenbar in Afrika aufgenommen wurde, stellt er einen Fuß in einem Stiefel mit dicker Sohle auf ein am Boden liegendes Nashorn. Umringt wird er dabei von lächelnden, dunkelhäutigen Buschmännern, die den gefesselten Dickhäuter mit dicken Seilen am Boden halten.

Und dann ist da, alles überragend und gleichsam im Mittelpunkt der gesamten Wohnung, der ausgestopfte Kopf eines Wildschweins, das einen aus gläsernen Augen zu beobachten scheint, egal, was man macht. Aber lauert da im Schatten des Durchgangs zur Küche nicht noch etwas größeres, ein noch gewaltigeres Raubtier? Schimmert da vielleicht das Fell eines präparierten Eisbären, mit gefletschten Zähnen und hoch erhobenen Pranken?

Er hockt sich auf einen hölzernen Schemel mir gegenüber und nimmt einen tiefen Schluck von seinem Maniok-Gesöff. Seufzend erzählt er mir von einem Walkabout, den er gerade in der Wildnis Australiens hinter sich gebracht hat. Seine grauen Augen blitzen lebhaft, während er in Erinnerungen versinkt. Aber er spricht auch von seinem Gefühl, nach seiner Rückkehr nicht mehr Teil dieser Welt zu sein. Er habe manchmal den Eindruck, seine eigenen Beine würden ihn nicht tragen in dieser westlichen Zivilisation und auf dem harten Asphalt. Er fühle sich manchmal verloren, sagt er, geradezu LOST, als hätte er verpasst, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Ort zu sein, der noch nicht mit ihm fertig ist.

"Helen", sagt er, "hätte mich einen besessenen Narren genannt." Und dann bleibt er mir schmunzelnd die Erklärung schuldig, wer diese Helen ist oder war. Stattdessen säubert er sich mit einem Schweizer-Messer, das er aus einer der vielen Taschen seiner Allzweckweste gezogen hat, die Fingernägel.

"Darf ich Dich zu einem Wildschweinbraten einladen?" fragt er plötzlich unvermittelt und springt auf die Beine. "Schmeckt aus einem Backofen natürlich nur halb so gut wie über einem offenen Feuer gebraten, ist aber immer wieder ein Festmahl!" Doch ich lehne dankend ab und verabschiede mich.

Ach ja, der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt: Der Name des Bewohners von Apartment 4, zweiter Stock rechts, ist Locke, Johnathan, genannt "John", Locke.

Friday, December 03, 2010

Apartment 3

Zweiter Stock links

Was für ein schönes Paar! Dunkelhaarig und dunkeläugig, temperamentvoll und rassig. Spanischer oder südamerikanischer Herkunft oder Abstammung. Und erst diese Namen: Izabella und Enrico Sanchez Estevez De La Rossa. Das klingt wie Musik. Wie Tango oder Flamenco. Wie Gitarren und Kastagnetten.

Was sie in diese Gegend der Welt verschlagen hat, wollen Sie mir nicht verraten. Auch nicht, was sie beruflich machen. Selbst daraus, wie lange sie schon verheiratet sind, machen sie ein großes Geheimnis. Sie servieren mir starken Kaffee, schwarz, aromatisch und vollkommen überzuckert.

Dann werfen sie mich mehr oder weniger aus ihrer Wohnung, als eine Gruppe ebenso dunkelhaariger und vermutlich auch dunkeläugiger Männer in eleganten, schwarzen Anzügen und mit großen, dunklen Sonnenbrillen eintrifft. Sie sprechen ein schnelles und lautes Spanisch, das ich nicht verstehe, und gestikulieren dazu wild und hektisch.

Während ich auf dem Weg zum Fahrstuhl einen Blick über die Schulter zurück werfe, bemerke ich den mittelalten, glatzköpfigen Bewohner des Apartments nebenan, der seinen Kopf aus seiner Wohnungstür hält und ebenfalls interessiert dem Treiben in der Wohnung seiner Nachbarn lauscht. Als er mich sieht, tippt er sich grüßend an die Schläfe, und verschwindet dann in seinen eigenen vier Wänden.

Und ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll.

Thursday, December 02, 2010

Apartment 2

Erster Stock rechts

Sein Name ist Frank. Ja, lieber Blogkommenterrorist, es gibt tatsächlich einen Frank in meiner unmittelbaren Umgebung, auch wenn ich ihn erst heute kennengelernt habe. Der Bewohner von Apartment 2 im ersten Stock rechts, also eher hinten, heißt also Frank, Frank Lapidus, um genau zu sein.

Es sei reiner Zufall, dass ich ihn zu Hause angetroffen hätte, sagt er. Er sei Pilot, sagt er, und er sei eigentlich für einen Flug nach Sydney, Australien, und wieder zurück vorgesehen gewesen. Allerdings hätte er an diesem Morgen verschlafen und sei telefonisch nicht erreichbar gewesen, also hätte ein Pilotenkollege einspringen müssen. Die kleine, transpazifische Fluggesellschaft, für die er arbeite, hätte ihm daraufhin eine Woche unbezahlten Urlaub aufgenötigt. Dies sei wohl nun das Ende seiner steilen Karriere bei diesem Unternehmen.

Den Rest des Abends beschwert er sich über das Nachtleben in dieser Stadt, das so gut wie nicht vorhanden sei, über das lokale Bier und darüber, dass es in diesem Haus keinen Hausmeister, Portier, Concierge oder sonst was gäbe. Niemand würde seine Post annehmen, wenn er in Übersee sei. Niemand ihn wecken, wenn er verschlafen hätte. Dabei öffnet er eine Bierdose nach der anderen und nimmt abwechselnd noch kleine oder auch größere Schlucke aus einer unbeschrifteten Flasche mit einer beinahe durchsichtigen Flüssigkeit.

Ich trinke ein, zwei Dosen mit, zu denen er mich eingeladen hat, kann dann aber nicht mehr mithalten. Und während ich zu seiner Wohnungstür wanke und er trotz wesentlich höherem Alkoholpegel relativ aufrecht hinter mir abschließt, frage ich mich, ob ich freiwillig diesem Frank als Piloten mein Leben an Bord eines Passagierflugzeuges in die Hände legen würde.

Wednesday, December 01, 2010

Apartment 1

Erster Stock links

Da wohne ich nun schon seit über einem Jahr in Bromford, der freundlichen Stadt mit der Brücke am Meer, und in diesem, meinen Penthouse über dem fünfzehnten Stockwerk, wort-wörtlich auf dem Dach des Hochhauses, und kenne kaum einen meiner Nachbarn, kaum einen der anderen Bewohner des Hauses in der Whitaker Lane 666. Ich werde versuchen, das in den nächsten vierundzwanzig Tagen zu ändern.

Das Wohnhaus hat, von meinem Penthouse abgesehen, noch vierundzwanzig weitere Wohnungen, achtzehn kleinere Apartments, von denen sich jeweils zwei eine Etage teilen, und sechs größere Wohnungen, die jeweils ein ganzes Stockwerk einnehmen. Erreichbar sind die verschiedenen Ebenen des Hauses wahlweise über einen Fahrstuhl oder ein Treppenhaus, wobei sich die Treppen um den Aufzugschacht nach oben winden.

Bisher habe ich immer den Fahrstuhl genommen, um in mein Penthouse zu gelangen. Ich muss einfach nur einen besonderen Schlüssel in ein Schloss im Inneren des Fahrstuhls stecken und lande direkt in meiner Wohnung auf dem Dach. Gewöhnliche Besucher ohne diesen "goldenen" Schlüssel, müssen bis in die fünfzehnte Etage fahren oder steigen, dann ein letztes Treppenstück nehmen und landen so auf der Nordseite des Daches. Mein Penthouse steht wie ein wirkliches, einstöckiges Haus in der Mitte des Daches. Ein Kiesweg führt vom Ende der Treppe im Freien bis zu meiner Haustür, an der die Besucher, wie an den meisten Haustüren, klingeln müssen, um eingelassen zu werden. Wenn ich denn überhaupt Besuch bekomme. Oder was war mit der rothaarigen Nachbarin aus dem Stockwerk unter mir, die sich den Zucker ausleihen wollte? Wie lange ist das nun wieder her? Raum und Zeit haben die Angewohnheit, in meinem Kopf zu verschmelzen zu einem undurchsichtigen, trüben Gebräu aus…

Doch genug damit! Ab heute nehme ich die Treppen, halte jeden Tag in einer anderen Etage an und klopfe oder klingele an einer anderen Wohnungstür. Ich werde mich vorstellen als der Bewohner des kleinen Hauses auf dem Dach und versuchen, so die Menschen und ihre Leben zu meinen Füßen besser kennenzulernen.

Ich beginne im ersten Stock, Apartment 1, auch "erster Stock links" genannt, obwohl mir der Sinn dieser Bezeichnung nicht ganz einleuchtet. Die Wohnungen sind hintereinander angeordnet auf den Etagen, auf denen sich zwei befinden, und über einen langen, durchgängigen Flur zu erreichen. Also liegt Apartment 1 eher vor Apartment 2, oder wenn man auf dem Flur zwischen den beiden Wohnungstüren steht, eher rechts davon.

Ich bin etwas aufgeregt. Was wird die Bewohnerin dieser Wohnung zu meinem unangekündigten Besuch sagen? Wird sie sich freuen, mich zu sehen, oder mich als aufdringlich und anmaßend empfinden und versuchen, mich so schnell wie möglich abzuwimmeln? "Anne-Marie Whitaker" steht auf dem goldenen Namensschild an der weißen Tür mit dem kleinen, runden Spion auf Augenhöhe in der Mitte.

Ich schaue nervös und mit schwitzigen Händen nach rechts und links. Von rechts bin ich gekommen. An diesem Ende des langen Flures befindet sich der Hauseingang. Dort ist der Fahrstuhlschacht. Rechts davon führen die ersten Treppenstufen in die oberen Stockwerke, links davon welche hinab in die Kellerräume. Links von mir geht es zum Eingang von Apartment 2, das ich morgen besuchen werde. Aber der Flur endet nicht an der Wohnungstür von Apartment 2. Er geht weiter bis ans andere Ende des Hauses, wo ein großes Fenster auf die Südseite der Stadt Bromford schaut.

Anne-Marie Whitaker, Dich habe ich noch nie zu Gesicht bekommen. Höchste, allerhöchste Zeit, das zu ändern. Statt den Klingelknopf zu drücken, klopfe ich an die helle Tür, nicht zu energisch und alarmierend, wie ich hoffe.

Anne-Marie Whitaker ist eine kleine, alte Dame mit auffallend blauem, wenn nicht fast violettem Haar. Hier scheint eine Haartönung schief gegangen zu sein. Wo bleibt Ihr Mut zu silbernen Haaren, Miss Whitaker? Sie ist alleinstehend und war nie verheiratet, etwas, das sie mir schon nach den ersten Begrüßungsworten ungefragt offenbart. Den Rest des Gesprächs geht es nur noch um ihren berühmten Vorfahren und sein Vermächtnis.

Die Whitaker Lane, in der unser Wohnhaus mit der Nummer 666 steht, wurde nach Roger Whitaker benannt, einem scheinbar uralten und längst verblichenen Barden, der im Mittelalter gewirkt zu haben scheint. So hört es sich zumindest in Anne-Maries Erzählungen an. Miss Whitaker ist eine Ur-Ur-Ur-Enkelin von diesem Roger, oder etwas in der Art. Und eines ihrer totlangweiligen Hobbies scheint zu sein, sich Musik ihres Vorfahren anzuhören, die eine volkstümliche Gesangs- und Intrumentalgruppe neu eingespielt hat.

Und so singen die neuen Barden den ganzen Abend Rogers alte Lieder, die sich eins wie das andere anhören. Und ich nippe dazu ein bitteres Gebräu, das Anne-Marie als Tee bezeichnet und knabbere dazu höflich an steinhartem Gebäck ohne Geschmack.

Als ich mich endlich von ihr verabschieden kann, schaue ich an ihrer Wohnungstür kurz in Richtung Apartment 2. Was wird mich morgen dort erwarten? Ist das ganze Apartmenthaus in der Whitaker Lane 666 in Bromford, der freundlichen Stadt am Meer mit der Brücke, voller alter und kauziger Typen?

Mit diesen Gedanken im Kopf drehe ich den goldenen Schlüssel im Schloss im Fahrstuhl und fahre ohne Halt hinauf in mein kleines Haus auf dem Dach.