Monday, December 03, 2012

Noch 18 Tage…


"Na, Schatz, wie war Dein Tag?"

Seit wann hat das Lama diesen Hang, seltsame Kleidung zu tragen? Oder überhaupt Kleidung zu tragen? Heute trägt es einen kunterbunten Strickponcho mit den eckigen Mustern südamerikanischer Indios. Aber wenigstens passt seine Frage diesmal erstmals zu den Umständen und der Tageszeit.

"Wo warst Du bei dem großen Stromausfall heute Vormittag?" antworte ich mit einer Gegenfrage und werfe Mantel und Schal über einen leeren Küchenstuhl.

"Ich versuchte mich gerade in einer alten, lamatischen Bergmeditation zu den Klängen eines peruanischen Panflöten-Perzetts vom Band zu entspannen, als mich mit einem Mal Stille und relative Dunkelheit umfingen", sagt das Tier. "Warum fragst Du, Alter?"

Was ist ein Perzett?, frage ich mich, beschließe aber nicht näher darauf einzugehen, weil es uns zu sehr vom Thema ablenken würde.

"Ich saß heute Vormittag gut eineinhalb Stunden in absoluter Finsternis in der U-Bahn fest", verkünde ich.

"Seit wann hat Bromford denn eine U-Bahn?" fragt das Tier.

"Schon länger, denke ich", sage ich, "aber darum geht es hier doch gar nicht!"

"Dir ist schon bewusst, dass die Stromausfälle in der letzten Zeit nur eine Verschwörung der stromerzeugenden Industrie sind?" fragt das Tier.

"Eine Verschwörung?" frage ich und denke zugleich: Mist! Darauf sollte ich nicht eingehen. Das Lama und seine Verschwörungstheorien!

"Nachdem der Ausstieg aus der Kernenergie beschlossene Sache und die Schließung einiger Atomkraftwerke verkündet worden ist, sehen die Stromanbieter ihre Felle davonschwimmen. Das nicht ausreichend ausgebaute Stromnetz ist nur ein Vorwand, um den Kunden noch tiefer in die Tasche greifen zu können. Und mit diesen inszenierten Stromausfällen wie heute Morgen und der Drohung vor weiteren im Verlauf des Winters, wenn Sonnen- und Windenergie nicht mehr genug Strom liefern würden, wollen sie uns nur verunsichern und in Panik versetzen, um uns zu einem erneuten Umdenken im Punkt des Ausstiegs bewegen. Wirst sehn, schon bald gehen gekaufte Demonstranten auf die Straßen mit durchgestrichenen Atomkraft-Nein-Danke-Plakaten, um für den Erhalt der Kernreaktoren zu demonstrieren! Denk, an meine Worte!"

"Woher willst Du das wissen?" frage ich vorsichtig.

"Bin in einen E-Mail-Verteiler gerutscht, zu dem ich eigentlich nicht gehören sollte", antwortet das Tier geheimnisvoll.

"Nun, gut", sage ich skeptisch, "aber eigentlich war das noch nicht meine Geschichte. Ich habe jemanden kennengelernt, als wir da so unter der Erde in totaler Finsternis festsaßen!"

"So, so", sagt das Lama, "klingt ja interessant. Wen hast Du kennengelernt? Den Fahrkartenkontrolleur?"

"Nein", sage ich, "nicht den Fahrkartenkontrolleur! Ich habe eine nette, junge Frau getroffen– jedenfalls nach dem, was ich von ihr sehen und hören konnte."

"Was soll denn das nun wieder heißen?" fragt das Lama. "Nach dem, was Du von ihr sehen und hören konntest?"

"Es war Stromausfall!" sage ich. "Es war dunkel!"

"Also weißt Du gar nicht, wie sie aussieht, Alter?"

"Nicht wirklich", räume ich ein. "Aber sie hatte eine sehr angenehme Stimme. Und sie hat meine Hand genommen und mich gefragt, wie lange wir wohl noch dort unten eingeschlossen sein würden. Und ob man uns vielleicht da rausholen würde. Dann hat sie noch gefragt, ob das wohl alles Anzeichen für das Ende der Welt sind, und mir ihre Telefonnummer gegeben. Leider sind wir alle etwas durcheinandergeworfen worden, als der Strom wieder da war und die U-Bahn mit einem Ruck wieder angefahren ist. Dabei habe ich sie aus den Augen verloren. Ich habe fast eine Stunde nach ihr gesucht, konnte sie aber nicht wiederfinden."

"Klingt ja aufregend", schmatzt das Tier abfällig.

"Sie ist vielleicht die Eine!" rufe ich aus. "Sie ist vielleicht die zukünftige Mutter meiner zukünftigen Kinder! Sie ist vielleicht die, mit der ich nach dem Weltuntergang auf einer neuen Erde den Grundstein für den Fortbestand der Menschheit legen werde! Jetzt zeig' doch mal etwas mehr Interesse und Begeisterung!"

"Ja", grunzt das Lama, "später vielleicht. Wie wäre es denn erst mal mit den wichtigsten Facts zum Tag?"

Ich fasse es nicht. Ich bin noch immer völlig aufgewühlt von meinem Erlebnis und meiner Begegnung und das Tier geht einfach zu Tagesordnung über. Und doch beginne ich reflexartig zu dozieren:

"Heute ist Montag, der 3. Dezember. Wir befinden uns in der 49. Kalenderwoche des Jahres 2012 nach Christi Geburt. Es ist der 338. Tag des Jahres. Und es sind noch 28 Tage bis zum Jahresende (WNM). Sternzeichen ist immer noch Schütze. Namenstag haben Franz, Xaver, Jason, Modestus, Gerlinde und Emma.

Die Sonne ging auf um 08:08 Uhr und unter um 16:16 Uhr. Mondaufgang ist um 21:04 Uhr und Untergang morgen um 11:32 Uhr.

Katharina Witt (Eiskunstläuferin) wird heute 47 Jahre alt. Franz Klammer (Skirennläufer) 59. "Ozzy" Osbourne (Musiker) 64. Alice Schwarzer (Journalistin) 70. Franz Josef Degenhardt (Musiker) 81. Jean-Luc Godard (Regisseur) 82. Klaus Johann Jacobs (Mäzen) 76. Wolfgang Neuss (Kabarettist) 89. Fritz Steuben (Schriftsteller) 114. Anna Freud (Psychoanalytikerin und Tocher von Siegmund) 117.

Heute vor 40 Jahren verunglückte ein Flieger der Firma Spantax beim Start auf Teneriffa. Über 150 Menschen starben. Vor 45 Jahren gelang dem Chirurgen Christiaan Barnard in Kapstadt die erste Herzverpflanzung. Und vor 65 Jahren hatte das Tennessee-Williams-Stück 'Endstation Sehnsucht' – mit aber vielleicht eher ohne Marlon Brando – Uraufführung in New York.

Außerdem ist der 3. Dezember Internationaler Tag der Behinderten."

"Ja…, so…, so…", murmelt das Tier, "hmm…, also…, na..., dann…"

"Was bist Du denn jetzt so einsilbig?" rege ich mich auf.

"Ich suche nur ganz tief in meinem Inneren nach dem erwachenden Interesse für das, was Du hier so von Dir gibst", sagt das Tier. "Aber ich denke, die Chancen stehen mehr als schlecht, dass ich da auch nur die geringste Spur davon auftreiben werde."

"Ach, weißt Du was", sage ich und verschwinde aus der Küche. "Halt die Klappe, ich hab' Feierabend!"

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