"Ich war neulich auf der Galopprennbahn!" verkündet das Lama.
"So?" frage ich. "Ich wusste gar nicht, dass Du ein Freund des Pferdesports bist."
"Pferde, Alter?" Das Lama spuckt fast aus bei dem Wort. "Diese arroganten Biester mit ihren langen Mähnen und ihrem glatten Fell? Im Leben nicht! Ich spreche hier von Lamarennen, dem härtesten und zugleich elegantesten Sport der Welt!"
"Oh", sage ich und beschließe vorerst für mich zu behalten, dass ich die Existenz dieses Sports – zumindest in diesen Breitengraden – doch leicht bis mittelschwer anzweifeln möchte.
"Aber das ist gar nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte", fährt das Lama fort. "Also, unterbrich mich nicht dauernd!"
"Hm", mache ich und trommele leicht mit den Fingern auf der Tischplatte.
"Also, neulich auf der Lamarennbahn – Hun-Hunapú auf Alpaca-Joe hatte gerade im dritten Rennen um Haaresbreite Yum Kaax auf Poncho-Blitz geschlagen und mich damit eine ordentliche Stange Geld gekostet…"
"Du wettest auf Lamarennen?" unterbreche ich.
"Ja!" knurrt das Tier.
"Geld?" frage ich. "Du wettest Geld auf den Ausgang von Lamarennen?"
"Alter! Ja, aber das ist nicht, was ich erzählen will, also halt die Klappe!"
"Ist ja schon gut", sage ich und mache eine rollende Geste, die das Tier zum Fortfahren animieren soll.
"Nach dem dritten Rennen verschluckte ich mich also an einem Häppchen Kaviar auf Lachs auf einem Weißbrot und musste so kräftig husten, dass nicht einmal ein Schluck Champagner meinen Anfall lindern konnte und mir meine florale Hutkreation über die Augen rutschte…"
"Findest Du nicht, dass das jetzt etwas zu viele Klischees sind?" frage ich.
"Alter!" zischt das Tier.
"Schon gut, schon gut. Es fahre fort! Es fahre fort!"
"Ich stolperte also halb blind und hustend rückwärts über den halbhohen, gemauerten Rand eines stillgelegten Brunnens und stürzte kopfüber in den Brunnenschacht."
Ich versuche, möglichst neutral an die Decke zu schauen. Und als ich nichts einzuwerfen habe, fährt das Lama fort:
"Als ich wieder zu mir kam, war ich umringt von lauter alten Rennlamas und ihren Nachkommen. Du musst wissen: Die Rennlamabesitzer, diese kalten, herzlosen Kapitalistensäcke haben Jahrzehnte lang ihre lahmen, verletzten und alten Tiere entsorgt, indem sie sie in diesen Brunnenschacht geworfen haben. Aber die Artgenossen sind nicht gestorben, wie sie sollten, weil sie keine Leistung mehr gebracht haben. Oh, nein, Alter! Diesen Gefallen haben sie der kalten, herzlosen Welt hier oben an der Oberfläche nicht getan! Sie haben sich mit ihren eigenen Schnuten ihre eigene Welt gegraben, Alter! Ihr eigenes unterirdisches Reich! Die haben da Spielhöllen und Fastfood-Restaurants und so…"
Ich wage noch immer keine Unterbrechung.
"Ich nenne es LAMAWORLD!" verkündet das Tier und steigt mit den Vorderfüßen auf den Rand des Couchtisches. "Sie haben mich da Monate lang beherbergt und versorgt und mich in ihre größten Geheimnisse eingeweiht."
Jetzt steht das Lama mit allen Vieren mitten auf dem Couchtisch und zieht ein Pergament – aus Pferdeleder, wie es mir verschwörerisch zuraunt – aus dem Beutel, den es immer und immer öfter über der Schulter trägt. Es hält das Schriftstück in die Höhe und verkündet:
"Und eines Tages werden sie ihr unterirdisches Reich und die Kanalisation verlassen, an die Oberfläche steigen und die Weltherrschaft an sich reißen! Sie werden die verderbte Menschheit versklaven und in Scharen aus den Brunnenschächten und Abflussrohren und Gullys steigen, die auf diesem Pergament verzeichnet sind! Macht Euch gefasst auf den glorreichen Tag des Lamas!"
Ich schlucke, sage aber nach wie vor nichts.
Das Lama lässt das Pergament in seinen Beutel zurückgleiten und steigt vom Couchtisch herunter.
"Da habe ich mich wohl gerade etwas hinreißen lassen?" fragt es vorsichtig. "Können wir das gerade Gesagte eventuell vorübergehend vergessen?"
Ich zuckte die Schultern und mache eine unbestimmte Geste mit den Händen.
"Kennst Du eigentlich Oliver Marc Schulz?" fragt das Tier dann unvermittelt.
"Nein, nicht, dass ich wüsste", antworte ich. "Hat der irgendwas mit Marc-Uwe Kling zu tun?"
"Nicht, dass ich wüsste", antwortet das Lama. "Aber dann sagt Dir sicher auch der Ausdruck Horseworld nichts?"
"Manchmal", sage ich statt einer Antwort, "wünschte ich mir, das Usutu-Virus würde endlich auch auf Lamas übergreifen!"
"Usu-Was?"
"Wenn Du das nicht weißt", sage ich, "dann zwitschere ruhig fröhlich weiter, arme kleine ahnungslose Amsel!"
Ich stehe vom Sofa auf und schalte den Fernseher an.
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