Tuesday, May 15, 2012

Ein Lama auf Weltreise…

I want to wake up in that city
That doesn't sleep!

Ist Bromford, die freundliche Stadt am Meer, diese Stadt? Singt der gute, alte Frank Sinistra noch immer dieses Lied, wo auch immer er sein mag?

Das alles geht mir durch den Kopf, als ich im ersten Stock aus dem Fahrstuhl steige. Ich habe den Expresslift in mein Penthouse und den kleinen, goldenen Schlüssel dazu eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr benutzt. Was hat mich nur dazu getrieben, in den letzten Monaten immer im fünfzehnten Stockwerk auszusteigen, die Treppe bis auf das Dach zu nehmen und dann mein Penthouse durch die Haustür am Ende des Kiesweges zu betreten? Das Gefühl der Normalität, flüstert etwas in meinem Kopf. Wer hat schon eine Wohnung, die man durch einen Expressfahrstuhl betreten kann? Außerdem haben sie den Concierge gefeuert und wer weiß, wer neuerdings alles das Haus in der Whitaker Lane 666 und damit den Fahrstuhl betreten kann? Und auch wenn in mein Penthouse nur der kommt, der auch den goldenen Schlüssel hat und die Fahrstuhltüren für alle Unbefugten geschlossen bleiben, so ist es doch immer noch derselbe Fahrstuhl, der seine Passagiere ohne Probleme in den Stockwerken eins bis fünfzehn ausspuckt.

"Da kommen komische Geräusche und Blitzlichter aus Ihrem Keller, Bromford!"

Erschrocken bleibe ich auf Höhe der fachartigen Briefkästen stehen. Mein Keller? Wovon spricht die Stimme, die mich hier so unerwartet anspricht? Ich drehe mich um und blicke in das freundliche Gesicht der kleinen, alten Dame aus Apartment 1 im ersten Stock links. Anne-Marie Whitaker, Ur-Ur-Ur-Enkelin von Roger, dem Namenspatron der Whitaker Lane, hat noch immer keinen Mut zu silbernen Haaren. Wieder einmal scheint eine Tönung schief gegangen zu sein und ihr Haupthaar leuchtet in einem perlmuttartigen Rosa. Na, wenigstens lebt sie noch, denke ich zerstreut und frage mich, ob ich mich nicht kürzlich gefragt habe, wer von den Bewohnern der Whitaker Lane wohl schon nicht mehr unter den Lebenden wandelt.

Anne-Marie zwinkert mir zu und deutet auf die Treppenstufen hinunter zu den Kellerräumen. Dort unten befinden sich neben dem Übungskeller der "Imaginary Four Buggles" mit den leeren Eierkartons an den Wänden noch die fünfundzwanzig Kellerzellen der fünfundzwanzig Wohnungen und Apartments des Hauses in der Whitaker Lane 666. Stimmt, dort unten, ganz am Ende eines schummerigen Gangs habe auch ich einen solchen mit Holzgitterstäben von der Nachbarzelle abgeteilten Stauraum. Aber wie sollen von dort Geräusche und Blitzlichter kommen? Als ich das letzte Mal dort unten war, hatte dort nur ein altes, zerschlissenes Sofa mit herausragenden Sprungfedern vor sich hin gegammelt. Und das hatte nicht einmal mir sondern dem Vorbesitzer meines Penthouses gehört.

"Sie sollten einmal nachschauen!" sagt Anne-Marie Whitaker hinter mir geheimnisvoll und ist schon wieder hinter ihrer weißen Wohnungstür mit dem goldenen Namensschild verschwunden, bevor ich sie fragen kann, wovon sie spricht.

Vorsichtig und mit leicht zitternden Knien steige ich in den Keller hinab. Der Übungskeller der "Buggles" ist heute leer und still. Kein Klavier, keine Posaune, Gitarre oder Schlagzeug zu hören. Kein Wunder eigentlich, denn heute ist nicht Sonntag, der traditionelle Übungstag der vier reiferen Herren aus diesem Haus. Ich lasse also diesen Teil des Kellers hinter mir und gehe weiter.

Noch ein paar Stufen hinab und ich stehe am Anfang des langen Ganges, an dessen Ende sich mein Kellerraum befindet. Zu meiner Rechten die Kellerwand mit den kleinen Kellerfenstern knapp unter der Decke, zu meiner Linken die Zellen mit ihren Holzgitterwänden und –türen. Ein feuchter Geruch steigt mir in die Nase, und ein eisiger Windhauch lässt mich frösteln. Ist es möglich, dass ich mich genau in diesem Moment unterhalb des Meeresspiegels befinde? Erklärt das den salzigen Geschmack, den ich auf der Zunge zu schmecken glaube?

Meine Finger tasten nach dem Lichtschalter, aber als ich ihn drücke tut sich nichts. Die nackten Glühbirnen, die ich in kurzen Abständen über mir an der Decke baumeln sehen kann, bleiben dunkel und schwingen leicht in einem Luftzug und im fahlen Tageslicht, das durch die schmalen Kellerfenster hereinfällt, hin und her. Ich verschränke die Arme vor der Brust und reibe mir mit den Fingern die Oberarme. Sollte es hier unten um diese Tages- und diese Jahreszeit wirklich so frisch sein, auch wenn dies hier ein Keller ist?

Etwas weiter den Gang hinunter huscht irgendetwas fauchend aus dem Halbdunkel in einen der Keller. War das eine Katze? War das etwa die Katze, die eine Zeit lang ungefragt mein Penthouse betreten hat? Aber war die nicht von einem Autoreifen um ihre neun Leben gebracht worden? War das dann vielleicht der Geist dieser Katze?

Und dann höre ich ein Klicken und sehe ein bläuliches Blitzen aus dem Kellerraum ganz am Ende des Ganges. Irgendetwas geht da vor sich. Ich atme tief ein und gehe vorsichtig den Gang hinunter. Ich versuche, dabei leise zu sein und mich möglichst dicht an der Wand zu meiner Rechten zu halten. Wer weiß, was sich im Halbdunkel der Kellerzellen hinter den Holzgittern alles verbirgt und versuchen könnte nach mir zu greifen! Fast sehe ich Gesichter und höre aufgeregte Stimmen. Und steht da nicht ein freundlich lächelnder Mann mit Halbglatze in Gefängniskleidung mit durchdringenden Augen hinter einer Plexiglasscheibe?

'Unsinn!', ermahne ich mich selber. Da sind nur ausrangierte Möbel, Stapel alter Zeitungen, Vorräte in Büchsen und andere Dinge, die Menschen in ihren Kellerräumen aufbewahren, nur eben alles etwas schwer zu erkennen in der schummerigen Beleuchtung. Ein Kellerteil reiht sich an den nächsten wie ein Würfel an den anderen, nur dass diese Würfel durchlässige Wände haben und man in der Regel von einem in den anderen schauen kann. Nur nicht in den letzten.

Ein besonders schräger Sonnenstrahl der untergehenden Sonne – Ist es wirklich schon so spät? – fällt durch das schmale Fenster unter der Decke neben dem letzten Keller am Ende des Ganges direkt auf ein großes, auf einen Holzrahmen aufgezogenes Plakat. Es ist so groß wie die Trennwand aus Gitterstäben zwischen den letzten beiden Kellerzellen und verbirgt den Blick auf diejenige, die zu meinem Penthouse gehört, und das, was darin vor sich geht. Da sind wieder dieses Klicken und dieses Blitzen!

Die große Plakatwand zeigt ein Foto des Eiffelturms in Paris. Im Licht des Sonnenstrahls, der jetzt schnell verblasst, sehe ich gerade noch einen flachen, rechteckigen Gegenstand, der vor meinem Keller im Gang liegt. Ich hebe ihn auf und drehe ihn ins schwächer werdende Licht der Kellerfenster.

Was soll das? Es ist eine Fotopostkarte. Sie zeigt das Lama vor dem Eiffelturm in Paris mit einem Baguette unter dem Vorderbein und einem Cognacschwenker zwischen den Zehen. Ich drehe die Karte um und erblicke die altbekannte lamartige Sauklaue, die hier nur wenige Worte geschrieben hat:

"Lieber Bromfurz,
ich bin…"

Was ist hier los? Wie kommt diese Karte hierher? Wieder blitzt und klickt es.

Ich mache einen Satz nach vorne und reiße die Gittertür zu meinem Kellerraum auf. Mit dem nächsten Schritt trete ich auf den Schalter eines Scheinwerfers, der an einem Stativ dicht an der Kellerdecke befestigt ist, und sofort hell aufleuchtet.

Vor mir, an der hinteren Wand der Kellerzelle, die nicht aus einem Holzgitter besteht, kauert das Lama und stößt einen panischen Schrei aus, der an das Quieken eines Ferkels erinnert. Gleichzeitig geht mit einem Blitzlicht und über Fernauslöser eine Kamera los, die ebenfalls auf einem Stativ neben dem Scheinwerfer angebracht ist. Das Lama wirft den Auslöser samt Kabel, über das er an der Kamera befestigt ist, in eine Ecke und dreht sich aus dem grellen Licht des Scheinwerfers.

"Was geht hier vor sich?" frage ich entgeistert.

"Schau mich nicht an! Schau mich nicht an!" jammert das Tier.

Es steht vor einem großen Fotoplakat, das die Tower Bridge in London zeigt und trägt eine von diesen hohen, schwarzen Fellmützen auf dem Kopf, die sonst die Leibgarde der Königin trägt. Der Riemen unter seinem Kinn ist verrutscht und das ganze Teil sieht nun eher aus wie der schiefe Turm von Pisa. Mit einem ungeschickten Satz versucht es, an mir vorbei aus dem Keller zu flüchten, stößt dabei allerdings an das zerschlissene Sofa, das nach hinten gegen eine ganze Reihe Fotoplakatwände stößt, die nun eine nach der anderen umfällt. Ich erkenne noch ein Bild der Akropolis in Athen, die Pyramiden von Gizeh, die Jesus-Statue von Rio de Janeiro und die Pyramide des Kukulcán aus Mexiko, dann fällt mir der Scheinwerfer auf den Kopf. Und statt hell wird plötzlich alles dunkel.

Und von einem Schabrackentapir keine Spur…

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