Tuesday, October 09, 2012

Everglades…

Es klingelt.

Vor der Tür zu meinem Penthouse steht Mrs. Hudson, aber nicht in ihrer Verkleidung als Gouvernante vom Beginn des letzten Jahrhunderts, nicht als unsere Haushälterin, die das Lama so gern unsere Vermieterin nennt. Sie trägt das Haar wieder offen und ihre akademische Hornbrille, dazu ein elegantes, graues Kostüm. Gibt sie heute wieder meine Therapeutin? Hatten wir einen Termin? Ich schließe das kleine Sichtfenster in der Tür und drücke die Klinke herunter.

"Kusskuss?" ruft Mrs. Hudson und streckt ihre bebrillte Nase in den Flur des Penthouses. "Sind Sie da?"

Vorname und die Anrede "Sie", denke ich, wie vornehm oder wie schlecht synchronisierte amerikanische Seifenoper. Mit dem Fehlen der Anrede "Sie" im Englischen kommen einige Übersetzer scheinbar nicht klar. Oder warum sollten sich die Oberzicken in einer Glamour-Soap sonst gegenseitig die Augen auskratzen und sich an den Haaren ziehen, während sie sich beim Vornamen nennen, und dabei immer noch per "Sie" sein?

"Nun kommen Sie schon, Kusskuss!" Die Therapeutin geht langsam den Flur entlang und wirft flüchtige Blicke in die angrenzenden Räume "Ich weiß von Ihren Nachbarn, dass Sie da sind. Außerdem haben Sie doch gerade den Türöffner betätigt! Wo sind Sie?"

Sie will gar nicht zu mir? Sie will zum Lama? Warum nur? Und was faselt sie da von einem Türöffner? Ich habe ihr doch gerade höchstpersönlich die Tür geöffnet. Will sie mich denn gar nicht begrüßen? Will sie mich denn weiter ignorieren? Sieht sie mich denn gar nicht?

"Kommen Sie, Kusskuss. Ich mache mir Sorgen. Sie haben inzwischen drei Sitzungen verpasst. Das sind drei Monate, in denen wir nicht miteinander gesprochen haben."

Das Lama ist nicht in Behandlung! Das Lama hat keine Therapeutin! Das Lama braucht keine Therapeutin!

Was denke ich da nur für einen Unsinn? Psychiater! Wenn man sich mit denen einlässt, dann kann man ja nur komisch und wirr im Kopf werden.

Mrs. Hudson redet weiter vor sich hin: "Ich mache mir wirklich Sorgen! Ihre Nachbarn sagen, Sie haben angefangen, Essensreste und leere Flaschen von der Dachterrasse zu werfen. Außerdem spucken Sie aus dem Fenster. Und was sind das für Geschichten von einem Menschen, der jetzt angeblich mit Ihnen hier drinnen wohnt? Kusskuss, so kann das doch nicht weitergehen!"

Ein unbestimmtes Déjà-Vu-Gefühl macht mich schwindelig.

Aus dem Wohnzimmer kommt ein undeutliches Stöhnen.

"Ach, da sind Sie", murmelt Mrs. Hudson, drängelt mich zur Seite, geht fast durch mich hindurch und betritt das Wohnzimmer.

Das Lama liegt auf dem Sofa, alle Viere von sich in Richtung Decke gestreckt. Der kleine Kopf am langen Hals zeigt in Richtung Fußboden. Das Maul ist leicht geöffnet, und die Zunge hängt heraus.

Mrs. Hudson zieht sich einen der Sessel ans Sofa und beugt sich zu dem Tier hinunter. Mit einer beruhigenden Geste tätschelt sie ihm die Schulter.

"Kusskuss, mein liebes Tier, was ist denn nur passiert?" fragt sie voller Anteilnahme.

Das Lama hebt leicht den Kopf.

"Bromford!" keucht es. "Bromford Bibble!"

Mit glasigen Augen scheint es direkt durch die Therapeutin hindurch zu sehen und mich anzustarren.

Mrs. Hudson tätschelt weiter.

"Ihr imaginärer Freund?" fragt sie mitfühlend. "Wir sprachen darüber. Ist das sein Name? Ist das dieser Mensch, der sich in Ihrem Penthouse und in Ihrem Leben breit macht?"

Das Lama nickt wehleidig und dreht den Blick von mir weg.

"Er lässt mich einfach nicht in Ruhe!"

Es schiebt sich in eine sitzende Position und schlingt seine Vorderbeine um die Therapeutin. Dazu schluchzt es heiser, während kleine Erschütterungen durch seinen haarigen Körper laufen.

"Bitte helfen Sie mir, Kate! Befreien Sie mich von ihm! Machen Sie, dass er weg geht!"

"Ist ja schon gut! Ist ja schon gut!" Kate Hudson klopft dem Lama mit beiden Händen auf den Rücken. "Ich werde sehen, was ich tun kann. Wo ist dieser Mensch?"

Das Lama zeigt mit einem Huf hinter sie auf mich.

"Also, schön!"

Mrs. Kate Hudson erhebt sich schwerfällig aus dem Sessel, streicht ihren Rock glatt und dreht sich zu mir um. Sie stemmt die Hände in die Hüften und richtet laut und energisch das Wort an mich, wobei sie allerdings haarscharf an mir vorbeischaut.

"Hören Sie mir zu, Bromford Dribble!"

"Bibble!" korrigiert sie das Lama und grinst mich hinter ihrem Rücken unverschämt an.

"Hören Sie mir zu, Bromford Bibble!" herrscht mich die Frau, die nicht unsere Haushälterin und auch nicht unsere Vermieterin ist, an. "Es wird höchste Zeit für Sie zu gehen! Kusskuss braucht Sie nicht! Kusskuss will sie nicht! Lassen Sie das arme Tier endlich in Ruhe! Verschwinden Sie aus seiner Wohnung und aus seinem Leben!"

"Moment mal…", beginne ich meinen Widerspruch. Was ist denn hier nur los? Muss ich mir das bieten lassen? Was soll das Theater?

Doch unmerklich habe ich einige Schritte rückwärts gemacht. Schon stehe ich auf dem Flur, mit dem Rücken zur noch immer offenstehenden Penthouse-Tür.

Mrs. Hudson macht jetzt ausladende und rudernde Bewegungen mit den ausgestreckten Armen, als wolle sie ein Tier verscheuchen. Langsam, Schritt für Schritt weiche ich vor ihr zurück.

"Gehen Sie fort und kommen Sie nie mehr wieder! Verschwinden Sie dahin, wo sie hingehören! Ich verbiete Ihnen, sich Kusskuss auch nur bis auf hundert Meter Entfernung zu nähern! Weg, Bibble! Weg!"

"Aber, das ist doch alles genau andersherum…", versuche ich erneut einen Widerstand. "Das Lama ist doch hier…."

Doch da ist die Penthousetür schon vor meiner Nase zugefallen, und ich höre, wie sie von innen mit dem im Türschloss steckenden Wohnungsschlüssel abgeschlossen wird.

Da stehe ich nun staunend und verwirrt in der frischen Luft auf dem Dach.

"Will they ever be glad in the Everglades?" höre ich eine leise Stimme in meinem Kopf murmeln. Und während mir bewusst wird, dass das nicht der Sinn und Ursprung des Namens dieses tropischen Marschlandes im Süden des US-Bundesstaates Florida sein kann, trotte ich auch schon mit gesenktem Haupt über den Kiesweg auf dem Dach des Hochhauses in der Whitaker Lane 666 auf das Treppenhaus zu.

Der erste größere Herbststurm dieses Jahrs peitscht Wind und Regen vom Meer heran und durchnässt mich bis auf die Haut, bevor ich die Wohnungstür zu Apartment 24 hinter mir ins Schloss ziehen kann.

Wie konnte es nur soweit kommen, denke ich. Und wo soll das alles hier nur enden?

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