Saturday, October 20, 2012

Band On The Run…


"Du hast Dich ja lange nicht mehr in unserem Übungsraum blicken lassen, Bromford!" begrüßt mich die Gitarre. "Wird die Luft Dir nicht zu dünn in Deinem Penthouse?"

Paul Starr, der Gitarrist der hauseigenen Band The Buggles, schenkt mir ein eigentümliches Lächeln.

Aus der anderen Ecke erklingt ein Trommelwirbel, der mit einem Schlag auf das Becken endet. Ringo Lennon, der Schlagzeuger der Imaginary Four, ist auch da und tippt sich nun grüßend mit den Drumsticks an den Kopf.

Ich murmele einige erklärende Worte vom Lama, das mich sehr beschäftigt und auf Trapp gehalten hätte in der letzten Zeit, und von meinen Problemen, wieder in meine Wohnung auf dem Dach zu kommen, aber die beiden schauen mich nur stirnrunzelnd und verständnislos an. Von einem Lama, noch dazu in diesem Haus, haben sie offenbar noch nie etwas gehört.

"Bist Du jetzt religiös geworden, Bromford Bibble?" fragt mich Paul amüsiert. "Bist Du jetzt Buddhist geworden? Sprichst Du vom tibetischen Dalai Lama?"

Ringo schnauft: "Ach, was! Da steckt bestimmt eine Frau dahinter! Wie heißt die noch? Daliah Lama?"

"Quatsch keine Opern, Kumpel!" unterbricht Paul ihn lachend. "Unser Bromford ist zwar auch nicht mehr der Jüngste, aber für die ist er definitiv noch nicht alt genug!"

"Lamas im Penthouse", kichert Ringo weiter vor sich hin, "hört sich an wie zu viel Lucy in the Sky with Diamonds, wenn Du mich fragst!"

"Live and Let Die, sage ich immer", fährt Paul fort und wischt sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. "Und wenn schon nicht mit dem Yellow Submarine in Octopus's Garden, warum dann nicht im Penthouse eines Lamas?"

Wie kann es sein, dass das Lama seit über einem Jahr in diesem Haus wohnt, hier ein und aus geht, sich sogar einige Wochen lang im Keller versteckt hat, ohne dass Paul und Ringo es jemals bemerkt hätten? Ein sprechendes Lama in einem Hochhaus sollte doch wohl auch in der freundlichen Stadt am Meer, die heißt wie der Mann, keine Alltäglichkeit sein, die man einfach ignorieren und übersehen kann!

Worte von Mrs. Hudson vibrierten durch meine Gedanken. Worte über imaginäre Freunde und Halluzinationen, von denen ich nicht mal mehr sagen kann, ob sie an mich oder an das Tier gerichtet waren. Und immer wieder muss ich mich fragen, was es bedeuten würde, hätte ich mir meinen tierischen Hausbesetzer nur eingebildet.

"Wie läuft es mit den Buggles?" versuche ich das Thema zu wechseln. "Steht der ultimative Durchbruch kurz bevor? Oder das allumfassende und zugleich überraschende Comeback?"

Das aufgesetzte Grinsen gefriert mir auf dem Gesicht, als ich bemerke, wie Paul und Ringo betreten den Blick zu Boden richten. Paul legt die Gitarre auf das Sofa neben sich. Ringo lässt die Trommelstöcke sinken.

"Die Buggles gibt es nicht mehr. The Buggles sind Geschichte", murmelt Paul.

"Schlagzeug und Gitarre allein sind auch keine richtige Band", ergänzt Ringo leise.

"Aber ihr trefft Euch doch sicher immer noch jeden Sonntag zur Bandprobe, oder?" Manchmal braucht das Gehirn etwas länger, um gehörte Informationen zu verarbeiten, oder um die richtigen Schlüsse aus dem Gesagten zu ziehen.

"Heute ist Samstag", sagt Paul und packt sein Instrument in eine Kunstlederhülle. Der Reißverschluss ist das einzige Geräusch, das die Eierkartons an den Wänden des Proberaums schlucken müssen, als er ihn zuzieht.

"Wir hängen nur noch selten hier rum und jammen zu zweit ein bisschen", meint Ringo seufzend, "aber es ist einfach nicht mehr dasselbe seit John und George nicht mehr da sind."

Das Klavier und die Posaune, kommt es mir in den Sinn. Das musikalische Duett, das lange Zeit die einzigen menschlichen Geräusche zu sein schienen in meinem ersten Sommer vor drei Jahren in diesem Haus. John Harrison und George McCartney, die beiden anderen Mitglieder der Buggles, der Sonntagsband des Hauses in der Whitaker Lane 666.

"Sind die beiden denn weggezogen?" frage ich vorsichtig und versuche mir die einsamen Herren aus Apartment 9 und Apartment 10 im fünften Stock ins Gedächtnis zu rufen. Sie haben beide allein gelebt und nur ab und zu Besuch von ihren erwachsenen Söhnen bekommen, wenn ich mich richtig erinnere.

"George ist letztes Jahr, am 29. November an Lungenkrebs gestorben." Alles Leben ist aus Pauls Stimme gewichen. "Zuletzt hat er niemanden mehr erkannt, weil die Metastasen sein Gehirn angegriffen hatten."

Ich schlucke. Wo war ich nur zu der Zeit? Womit habe ich mich beschäftigt? Doch wohl nicht ernsthaft mit dem Lama und seiner brünetten Praktikantin?

"Aber die Band gab es vorher schon nicht mehr." Ringo löst ein Scheppern aus, als er beim Aufstehen mit der Hüfte an die Hi-Hats stößt. Er beginnt mit grimmigem Gesichtsausdruck im Übungskeller auf und ab zu gehen. "Johns neuste und letzte Ehefrau hat alles kaputt gemacht! Oko Yono wollte unsere Sängerin sein, mit Protestsongs und Aktionen die Welt verbessern. Talkin' about Revolution 1 bis 9. Can You Imagine? Dabei war alles, was aus ihrem Mund kam, nur das Gekreische für eine Plastikband."

"Sie hat John am Ende verboten, mit uns zu proben", ergänzt Paul leise und mit zitternder Stimme. "Und am 8. Dezember, kaum mehr als eine Woche nach Georges Tod, hat ein geistesgestörter Mann John hier vor unserem Haus erschossen."

John Harrison erschossen? Vor unserem Haus? Hier in der Whitaker Lane 666? Hier in Bromford, der freundlichen Stadt am Meer?

Wo bin ich nur die ganze Zeit gewesen? Warum habe ich von all dem nichts mitbekommen? Kann man so mit sich selbst beschäftigt sein, dass man alles andere um einen herum einfach ausblendet?

"Aber euch beiden und euren Frauen geht es gut, oder?" höre ich mich sagen, bevor ich auch nur weiß, was ich denken soll. Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?

Ringo räuspert sich unangenehm berührt.

"Barbara geht es gut", sagt er. "Ich sollte auch schon längst wieder oben bei ihr sein. Man sieht sich!"

Er schnappt sich seine Trommelstöcke und ist im nächsten Augenblick verschwunden.

"Und wie geht es Linda und den Kindern?" frage ich Paul.

Paul zieht mich auf die Beine und packt mir seine Hände auf die Schultern, während er mir fest in die Augen schaut.

"Bromford, Linda ist auch tot!" sagt er leise, nun ganz ohne erkennbare Emotionen in der Stimme. "Sie ist Weihnachten 2010 gestorben an einem nicht diagnostizierten Krebstumor, kurz nachdem Du uns zum Keksebacken besucht hattest. Die Kinder leben seitdem bei ihren Großeltern mütterlicherseits. Die sind jünger als ich und fanden mich schon immer zu alt als Mann für ihre Tochter und Vater für ihre Enkelkinder. Ich habe dann noch einmal geheiratet, aber die zweite Ehe hielt nicht besonders lange. Heather, meine zweite Frau, wollte nur mein Geld und war schnell wieder weg, als sie bemerkte, dass es bei mir nichts zu holen gibt. Und bevor Du in Mitleid zerfließt – ich bin schon wieder glücklich verheiratet. Am 9. Oktober 2011 habe ich Nancy das Ja-Wort gegeben. Und nun hoffe ich, dass sie meine letzte Lebensabschnittsgefährtin sein wird."

"Paul, ich weiß gar nicht…", beginne ich, aber er unterbricht mich und drückt mich zurück auf den Sessel, in dem ich bisher gesessen habe.

"Du brauchst nichts zu sagen", beginnt er und dreht mir den Rücken zu. "Wusstest Du eigentlich, dass sich seit 1969 hartnäckig das Gerücht hält, ich sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen und durch einen Doppelgänger ersetzt worden? Long Time Ago When We Was Fab. The Buggles haben damals tatsächlich das ein oder andere Album aufgenommen. Als angebliche 'Beweise' für mein Ableben deutete man unter anderem einige Details auf dem Cover unserer LP Downton Abbey, zum Beispiel, dass ich als einziger der Buggles barfuß zu sehen bin, was in Großbritannien als Todessymbol gedeutet wird, da Menschen hier ohne Schuhe beerdigt werden. Außerdem sei es außergewöhnlich, dass ich – als Linkshänder – meine Zigarette in der rechten Hand halte. Die Verschwörungstheorien hierzu sind bekannt unter dem Begriff 'Paul is dead'."

Er hat sich seine Gitarre auf den Rück geschnallt und steht nun in der offenen Tür aus dem Proberaum.

"Und Du willst mir etwas von einem Lama erzählen, das Dein Penthouse besetzt hält?! I Am The Walrus, Man!"

Mit diesen Worten lässt er mich zutiefst verwirrt und allein im Keller der Whitaker Lane 666 zurück.

Und von einem Lama keine Spur…

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